Die "Mittelschicht" kommt abhanden.

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Das DIW hat herausgefunden, dass die "Mittelschicht" schrumpft. 2008 z.B.habe sie um 0,5 % abgenommen, seit 1999 um gut 5 %. Die Zahlen besagen nicht viel, weil der Begriff Mittelschicht selbst nichts taugt. Die Zugehörigkeit zu dieser angeblichen Schicht ist so definiert: zwischen 70 und 150 % des durchschnittlichen Nettoreinkommens. Das sind nach den offiziellen Statistiken derzeit zwischen 1070 und 2350 Euro netto im Monat (für Alleinstehende). Meine Bekannte, die als Pflegehelferin einem Altersheim, einem Job, der Schwerstarbeit im physischen und psychischen Sinn ist, kriegt bei einer Vollzeitstelle im Schichtdienst netto 1200 Euro. Mein Bekannter, der als LKW-Fahrer arbeitet, kommt auf 1700 Euro, für endlose Plackerei rund um die Uhr. Das soll Mittelschicht sein ? - Vielen Dank. Da weiss man wenigstens, was denen zugedacht ist, die nicht zu dieser "Mittelschicht" gehören, sondern zur "Unterschicht". Und nach der anderen Seite hin: Jemand, der 2500 Euro Gehalt kriegt, soll demnach schon zur "Oberschicht" gehören ? - Lächerlich. (Nicht zufällig wird der Ausdruck Oberschicht denn auch vermieden. In dem Fall ist von "Besserverdienenden" die Rede.)

 

Wahr ist, dass es für zunehmend mehr Arbeiter, Angestellte und kleine Selbständige seit den 1980er Jahren - seitdem die neueste, um EDV gruppierte, wissenschaftlich-technische Revolution in Produktion, Verteilung und Verwaltung Eingang findet - abwärts geht, während sich ein anderer Teil gerade so halten kann, aber ohne die in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit "normale" beständige Verbesserung der materiellen Lage. Es hat sich herausgestellt, dass die Nachkriegsjahrzehnte eine Ausnahmeperiode waren und dass die Hoffnungen auf eine "nivellierte Mittelstandsgesellschaft", in der fast alle immer auskömmlicher leben können, sich nicht erfüllt haben. Die wirklichen gesellschaftlichen Unterschiede, die in der "sozialen Marktwirtschaft" vermeintlich nur noch ein Relikt der Vergangenheit sein sollten - der Zeit, in der es noch "wirklichen Kapitalismus" gab - haben nie aufgehört zu bestehen, auch in dieser Nachkriegszeit nicht. Und seit einigen Jahrzehnten wird das Profil wieder schärfer. Nicht zufällig klingt das Geschwätz von der "sozialen Marktwirtschaft" immer hohler und ist der Gebrauch des Begriffs Kapitalismus wieder normal geworden.

 

Ein anderer alter Begriff ist noch nicht wieder in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen, sondern klingt immer noch nach "links" - der der Arbeiterklasse. Das ist eine deutsche Besonderheit. Die Franzosen sprechen mit Selbstverständlichkeit von classe ouvriere, die Spanischsprachigen von clase obrera, die Englischsprachigen von working class. Gemeint sind einfach alle, die ihre Arbeitskraft für Lohn oder Gehalt an Kapitalisten verkaufen müssen. In Deutschland steht dem selbstverständlichen Gebrauch des Begriffs Arbeiterklasse auch entgegen, dass die künstliche, ideologische Aufteilung dieser Klasse in Arbeiter einerseits und Angestellte andererseits in den Köpfen ziemlich verankert ist - eine Teilung, die heute weniger denn je Sinn hat. Es gibt ja durchaus Facharbeiter, die sich besser stehen als einfache Laborangestellte, und auch hinsichtlich der Anteile von Hand- und Kopfarbeit in den verschiedenen Jobs ist das kaum noch ein Unterscheidungsmerkmal.

 

Wenn das DIW Befunde über die "Mittelschicht" bastelt, geht es um die Aufrechterhaltung des ideologischen Bildes von der Gesellschaft - sie sei "im Grunde" gar nicht mehr "richtig kapitalistisch", die meisten Menschen gehörten zur "Mittelschicht" (Da ist von um die 70 % herum die Rede.), Worte wie Werktätiger oder Kapitalist seien veraltet oder kommunistische Kampfbegriffe.

 

Aber dieses ideologische Weltbild erodiert. Es ist wie im Märchen von den neuen Kleidern des Kaisers. Der Kerl Kapitalismus steht allmählich wieder so nackt da, wie er ist. Die neuen Kleider Wohlstandsgesellschaft, Mittelstandsgesellschaft, "Arbeitgeber" und "Abeitnehmer" (eine besonders waghalsige Verdrehung, denn es ist ja genau anders herum), soziale Marktwirtschaft etc.pp. sind mittlerweile ziemlich spinnfädige Fetzchen. Kapitalismus ist Kapitalismus, nichts anderes, Punkt. Die Insassen dieser feinen Gesellschaft sind die Kapitalistenklasse (oder, ihren Anhang mitgerechnet: die Bourgeoisie), die Arbeiterklasse und einige Schichten dazwischen. Weniger als 1 % der Bürger, nämlich die Angehörigen der Monopolbourgeoisie, einige Dutzend Milliardäre, bestimmen wo es langgeht - solange sich der Rest dieser feinen Gesellschaft das gefallen lässt und die angebliche Pracht der "neuen Kleider" ... nun, zwar nicht mehr wirklich bewundert, aber immer noch nicht recht fassen kann, dass es diese Kleider gar nicht gibt.

 

Wäre doch wirklich zu schön gewesen - ein Kapitalismus, der, keiner weiss wie, sich in Luft aufgelöst hätte. Aber Gesellschaftsordnungen lösen sichg nun  einmal nicht in Luft auf. Sie abschaffen und eine neue bauen kann man dagegen schon - eine, in der wir wirklich alle "Mittelschichtler" sind, nämlich in dem Sinn, dass es keine Armen und auch keine Milliardäre mehr gibt.

 

 

 

 

Veröffentlicht in Kultur und Gesellschaft

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