Gaddafis Tod
Gaddafis Tod
von Angelika Gutsche
Es war einmal… So fangen in der Regel Märchen an, doch in diesem Falle ist es der Beginn eines Dramas.
Es war einmal… es war einmal ein Land, in dem nicht Milch und Honig flossen, sondern Öl, sehr viel Öl. Durch das Öl kam das Land zu großem Reichtum, der es seinem Herrscher erlaubte, seine Bürger bei Bedarf kostenlos ärztlich versorgen zu lassen, allen Kindern einen Schulbesuch zu ermöglichen, Brautpaaren Gelder zur Hausratsgründung zu spendieren und viele andere Wohltaten über dem Lande auszuschütten. Weil der Herrscher, auch genannt der Oberst, über viel Geld verfügte und es klug einzusetzen wusste, besaß er bald Macht und Einfluss auf dem ganzen Kontinent. Doch dieser Reichtum weckte Begehrlichkeiten, im eigenen Land, bei denen, die sich zu kurz gekommen fühlten und ihm deshalb absprachen, die Macht rechtmäßig auszuüben, und in fremden Ländern, bei jenen, die sich gerne die Reichtümer des Landes unter den Nagel gerissen hätten.
Als der Oberst in die Jahre kam hatt en sich das politische Klima und die Machtverhältnisse auf der Welt verändert. Er war des Kampfes müde und suchte die Aussöhnung mit seinen Gegnern. Er fand in fremden Ländern Freunde, die falsche Freunde waren und ihn verrieten; den Feinden im eigenen Land bot er gnädig die Hand und öffnete die Gefängnisse. Auch sie galten es ihm mit Verrat und schlossen eine unbarmherzige Allianz mit den ausländischen Mächten.
Ein ungleicher und ungerechter Krieg entbrannte, in dem sich der Oberst mit seinen Söhnen und den vielen Getreuen, die unverbrüchlich zu ihm standen, tapfer zur Wehr setzte. Er konnte nicht gefangen und nicht besiegt werden, trotz grausamsten Kriegsgeschehens, Kämpfern, die aus der Fremde kamen und 26.000 geflogenen Nato-Einsätzen, von denen nur 9.600 militärische Einrichtungen zum Ziel hatten.
Doch dann konnte ein deutscher Geheimdienst seinen Aufenthaltsort in Erfahrung bringen, die Außenministerin des großen feindlichen Landes kam in das Land des Öls, rief zum Mord am Oberst auf und brachte dafür Kämpfer in Form ihrer Leibwache mit. Das Schicksal des Oberst’ war besiegelt.
Die Stadt, in deren Nähe er einst in einem ärmlichen Beduinenzelt geboren worden war, wurde zu seinem Todesort. Die Bewohner hielten ihm bis zuletzt die Treue. Sie zahlten dafür einen hohen Preis: Ihre Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht. Mit seinen engsten Getreuen fand der Herrscher den Tod. Er fand ihn unter freiem Himmel, im Kampf, eines großen Mannes würdig. Sein Leichnam wurde geschändet, doch konnte ihn dies seiner Würde nicht berauben. Nur von einem Lendentuch umhüllt liegt er auf kaltem Stein. Sein Volk und mit ihm viele Menschen in Afrika und auf der ganzen Welt trauern.
Noch ranken sich Legenden um den Tod des Oberst’. Die meisten Menschen seines Landes wünschen ihn am Leben, ihn, der dem Land Wohlstand und Gerechtigkeit gebracht hat, so dass man schon bald das Zeitalter des Oberst’ als das Goldene Zeitalter bezeichnen wird. Die meisten Menschen des Landes wissen, dass sie keinen „verhassten Diktator“, sondern einen Garanten für Wohlstand und Sicherheit verloren haben und dass ihr Land, heimgesucht von rivalisierenden Stämmen und sich bekämpfenden politischen Gruppen, zum Spielball der westlichen Mächte degradiert, in Dunkelheit zu versinken droht.