Georg Dorn: Wie ich den 17. Juni 1953 erlebte

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

In drei Tagen ist es wieder soweit. Es wird des "Volksaufstandes in der DDR, bzw. "DDR", sogenannten DDR, Russenzone, Spitzbartstaat, Soffjetzone, Unrechtsstaat " ... (wahrscheinlich habe ich noch ein paar Bezeichnungen vergessen) ... gedacht werden. Man gedenkt freilich mittlerweile recht unaufwendig, mehr routinemässig, fast kleinlaut. In der alten BRD war das mal ein Feiertag, und ich erinnere mich gut, dass wir als Schulkinder in der bayerischen Zwergschule angehalten wurden, abends brennende Lichtlein ans Fenster zu stellen, um den armen Brüdern und Schwestern in der Zone heimzuleuchten. Nun, es hat noch ein gutes Weilchen gedauert, bis sich die Armen heimleuchten liessen, aber schliesslich hat es geklappt. Seitdem ist alles super im neuen Beinahegrossdeutschland, eitel Freiheit und Wohlstand allüberall, und das Heimleuchten hat schon längst weiter ausgegriffen, nach Jugoslawien und Somalia und Afghanistan und in Afrika gäbs auch schnuckelige Sächelchen, die noch nicht befreit sind, nur zum Beispiel. Seit jetzt gut zwanzig Jahren ernten wir jetzt die Friedensdividende - so um die 370 Euro pro Hartz-IV-Nase immerhin.

 

Hat irgendjemand 20 000 Euro für eine Gauck-Rede locker gemacht ? Oder muss der Herr heuer schweigen, weil die Freiheit schliesslich nicht kostenlos ist ?

 

Egal. Ich habe einen besseren Gedenktext gefunden, als der Hasspfaffe je zustande bringen könnte:

 

Wie ich den 17. Juni 1953 erlebte

 

von Georg Dorn

 

Da hatte sich im Oktober 1949 unter dem Zwang der historischen Ereignisse auf etwa einem Drittel des ehemaligen deutschen Territoriums (ohne die verlorenen Ostgebiete) mit ca. einem Viertel der ehemaligen deutschen Bevölkerung ein Staat etabliert, der von Anfang an vor der Frage stand: Ist es am zweckmäßigsten, sich zurück in die alten, aber jetzt demokratisch getarnten Machtstrukturen zu begeben, oder soll man so kühn zu sein und den Schritt in eine neue Gesellschaft wagen? Den Schritt wagen in eine Gesellschaft, die vorher noch niemand kennen gelernt hatte und für die es höchstens einen idealen Plan, ein gedanklich konstruiertes Modell gab? War man also bereit, einen Weg zu gehen, auf dem jeder Schritt, auch der kleinste, ein Schritt in historisches Neuland war?

 

Wir – und ich sage dieses „Wir“ bewusst, weil ich mich da ohne jeden Abstrich einbeziehe – entschlossen uns zu diesem kühnen Weg. Das muss man sich ganz plastisch vorstellen: Der Osten Deutschlands war der politisch und besonders ökonomisch rückständigste Teil Deutschlands gewesen, ohne eine nennenswerte Industrie. Der Osten war in der bisherigen deutschen Geschichte nie allein, sondern nur in der abhängigen Gemeinschaft mit den westlichen Landesteilen, wo die Industrie zu Hause war, lebensfähig gewesen.

 

Das alles musste erst einmal mit Menschen aufgebaut werden, die bisher davon keine Ahnung hatten – und das in einem Land, in dem die ohnehin schwachen ökonomischen Grundlagen fast total zerstört waren … mit hungernden Menschen, mit Menschen, deren politisches Denken und Handeln einerseits noch durch die faschistische Ideologie der Vergangenheit belastet war und die andererseits eine ständige, sozialismusfeindliche und antikommunistische Einflussnahme aus den westlichen Besatzungszonen verarbeiten mussten.

 

Und noch eins kam dazu: Während die soeben gegründete BRD von ihren westlichen Besatzungsmächten mit Hilfe des Marshallplanes ökonomisch hochgepäppelt wurde, musste die DDR nicht nur aus eigener Kraft eine eigene Wirtschaft faktisch aus dem Nichts aufbauen, sondern auch alle Reparationskosten für die Verwüstungen im zweiten Weltkrieg an die Sowjetunion tragen – alle Reparationsleistungen, wohlgemerkt, auch die für Westdeutschland!

 

Es verwundert deshalb nicht, dass die ökonomische Kraft der beiden deutschen Staaten von Anfang an außerordentlich ungleich war. Hinzu kam noch die ständige Störung dieses unsagbar schwierigen ökonomischen und politischen Aufbaus aus der BRD z. B. durch die Abwerbung von bei uns ausgebildeten Fachkadern (Ärzte, Lehrer, Ingenieure u.a.). Es gab außerdem massive Behinderungen durch Embargobestimmungen im Handel zwischen den beiden deutschen Staaten, durch die internationalen Auswirkungen der „Hallstein-Doktrin“ und auch durch ganz gewöhnliche kriminelle Akte wie Sabotage der Wirtschaft, Zerstörung von neu aufgebauten Industrieanlagen u.v.a.

 

Auf diesem historischen Hintergrund wuchs ein ganzes Bündel von Widersprüchen, von inneren, innerhalb des sozialistischen Aufbaus der DDR, und von äußeren, zwischen der DDR und der BRD und deren atlantischen Bündnispartnern, die einander durchdrangen und sich wechselseitig bedingten. Sie zu lösen, das war eine Frage der Politik, die wiederum nur auf diesem historischen Hintergrund zu verstehen ist. Eine erste Zuspitzung aller dieser Widersprüche reifte im Sommer 1953 heran und gipfelte in den Ereignissen um den 17. Juni 1953.

 

Wie immer bei solchen historischen ‚Jubiläen’ werden sie von den öffentlichen Medien ‚gewürdigt’ und – sofern es sich um Ereignisse aus der Geschichte der DDR handelt – maßlos entstellt und verfälscht mit der erklärten Absicht, „die DDR zu delegitimieren“ (Kinkel). Um einen „Volksaufstand“ oder gar eine „missglückte Revolution“ habe es sich gehandelt, die sogar in eine Reihe mit den Revolutionen von 1848 und 1918/19 eingeordnet wird, und die sich gegen die „SED-Diktatur“ und auf die „Erlangung der Freiheit“ richtete. Das alles ist purer Unsinn, schlichtweg unwahr, ein Musterbeispiel der Manipulation.

Was war wirklich geschehen?

 Ich habe den 17. Juni nicht in Berlin, sondern in Leipzig erlebt. Unter dem Druck der dargestellten Widersprüche hatte die politische Führung der DDR bereits 1952 beschlossen, schrittweise von der antifaschistisch-demokratischen Ordnung zum Aufbau der „Grundlagen des Sozialismus“ überzugehen. Ich will mich jeglicher Wertung, ob zu diesem Zeitpunkt diese strategische Orientierung richtig, d.h. das Volk der DDR dazu bereits reif genug war, enthalten. Das wird die zukünftige Geschichtsforschung sicher schlüssiger bewerten können. Für die Menschen bedeutete der Übergang zum Sozialismus jedenfalls mehr soziale Sicherheit, mehr politische Stabilität, eine gesicherte Perspektive.

 

Aber genau das umzusetzen war unter den heftig zugespitzten Widersprüchen immer schwieriger. Deshalb beschloss die politische Führung im Frühjahr 1953 administrativ (und das war meines Erachtens der entscheidende Fehler, nämlich „von oben her“, ohne Rücksicht auf die angespannte Stimmung von unten) eine Reihe von Maßnahmen, die den ökonomischen Handlungsspielraum erweitern sollten. Solche Maßnahmen waren die Erhöhung der Arbeitsnormen in der materiellen Produktion (die sich aber faktisch als Lohnminderung niederschlug), die Aberkennung der Lebensmittelkarten für bestimmte Bevölkerungsgruppen (kleine Gewerbetreibende), Steuererhöhungen u.a.

 

Es versteht sich, dass solche Maßnahmen zu ernsten Spannungen in der Bevölkerung führten. Die erkannten Spannungen wiederum veranlassten die Partei- und Staatsführung, am 11, Juni 1953 die Maßnahmen zurück zu nehmen und einen „Neuen Kurs“ in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu verkünden, was von antisozialistischen Kräften als Ausdruck der Schwäche der DDR gewertet wurde. Das war es aber genau nicht!

 

Gewissen Politikern in der BRD und in den USA lief jetzt vielmehr die Zeit davon, um in der DDR den „Tag X“ (dieser Begriff stammt aus dem Vokabular der Kalten Krieger) auslösen zu können, der sich wiederum auf die ‚Direktive NSC68’ des Nationalen Sicherheitsrates der USA stützte, in der u.a. die Aufgabe formuliert war: durch verstärkte wirtschaftliche, politische und psychologische Maßnahmen „Unruhe und Widerstand zu schüren und zu unterstützen“ (Strategie des „roll back“). Zu diesem Zweck waren in der BRD eine Reihe von Organisationen gebildet worden, z.B. die KGU („Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“), die Ostbüros der SPD und der CDU und die Organisation Gehlen, um nur einige zu nennen.

Als in der allgemeinen politischen Unsicherheit zuerst in Berlin, dann aber auch in mehreren Industriestandorten der DDR (Leipzig, Halle, Magdeburg) die Werktätigen für ihre legitimen Forderungen auf die Straße gingen, wurde das sofort von Westberlin und der BRD ausgenutzt. Zehntausende Westberliner, die über die offenen Staatsgrenzen nach Ostberlin strömten (unter ihnen tausende in funkelnagelneuer Maurer- oder Zimmermannskluft, behängt mit fabrikneuen Handwerkszeugen) drückten in der Leipziger Straße oder auf dem Marx-Engels-Platz den Kundgebungen ihren Stempel auf. Ungeniert erteilten US-Offiziere, sogar in Uniform und in Fahrzeugen mit US-Kennzeichen, ihren in Demonstrationszügen mitmarschierenden Verbindungsleuten Anweisungen.

 

Das sind Tatsachen, die nachweisbar sind, heute aber verschwiegen werden. Andere Diversionsgruppen wurden in die anderen Bezirke der DDR in Marsch gesetzt, um dort Krawalle anzuzetteln. Ebenso wahr ist, dass die Volkspolizei strenge Anweisung hatte, keinen Gebrauch von der Waffe zu machen. Und erst, nachdem in Magdeburg beim Sturm auf das Gefängnis drei Volkspolizisten erschossen und in Halle ein Wachmann eines Betriebes buchstäblich gelyncht und als in Berlin Kaufhäuser und Kioske in Brand gesetzt worden waren, griff die Sowjetarmee ein und gab wenige, meist ungezielte Schüsse ab.

 

Zu diesem Eingreifen war die SU als eine der Signatarmächte des Potsdamer Abkommens sogar verpflichtet. Es ging um nicht mehr und nicht weniger als um die Sicherung des Status quo der Nachkriegsordnung in Deutschland. Verschwiegen wird heute auch, dass der damalige Vorsitzende der CDU in der DDR, Otto Nuschke, von Randalieren nach Westberlin vor die Mikrophone des Senders RIAS verschleppt wurde und gezwungen werden sollte, dort einen Aufruf gegen die Regierung der DDR (der er selbst als stellvertretender Ministerpräsident angehörte) zu verlesen. Er lehnte dies strikt ab, weshalb den Entführern nichts anderes übrig blieb, als ihn wieder nach Ostberlin zurück zu bringen und dort auf freien Fuß zu setzen.

 

Wie schon gesagt, ich erlebte diese Ereignisse in Leipzig. Vormittags saß ich noch in den Prüfungen am Institut für Lehrerbildung. In der Mittagspause wurde ich mit einigen anderen Genossen aufgefordert, in die Kreisleitung der SED zu kommen. Dort standen wir nun, mit Holzknüppeln bewaffnet, um das Gebäude gegen Übergriffe zu schützen. Diagonal gegenüber eine in Leipzig stadtbekannte Gaststätte, der ‚Felsenkeller’, vor dem sich randalierender Mob versammelte. Irgendwann in den späten Nachmittagsstunden rasselte dann ein sowjetischer Panzer die Karl-Heine-Straße entlang und postierte sich mitten auf der Kreuzung. Ein junger Offizier kletterte aus dem Panzer und rief von unserem Telefon aus seine Kommandatur an, drehte sich mit der Bemerkung „nu gennuk“ um, marschierte zu seinem Panzer zurück und ließ dessen Geschützturm ein oder zweimal kreisen. Das war alles. Später habe ich erfahren, dass Randalierer die Büros der FDJ-Bezirksleitung gestürmt und dort das gesamte Mobiliar, Telefone und Schreibmaschinen aus den Fenstern gestürzt hatten. An den folgenden Tagen war ich in vielen Leipziger Betrieben mit den Produktionsarbeitern im Gespräch. Die meisten hatten das eigentliche Geschehen gar nicht begriffen. Aber eins war in all diesen Gesprächen klar: Keiner wollte die ‚Abschaffung’ der DDR, mit Entschiedenheit verwahrten sie sich gegen Vandalismus, traten aber ebenso klar und direkt für ihre berechtigten Forderungen ein, die ja eigentlich durch die Beschlüsse vom 11. Juni bereits gesichert waren.

 

Noch ein abschließendes Wort zur Einschätzung des Politbüros der SED, das die Ereignisse um den 17. Juni als einen „faschistischen Putsch“ definierte. Mit dem historischen Abstand von 58 Jahren halte ich diese Wertung für falsch. Richtig daran ist, dass ehemalige Faschisten z.T. eine recht aktive Rolle gespielt hatten. Das war ja auch nicht verwunderlich. Erst 8 Jahre nach dem Krieg und 4 Jahre nach der Gründung der DDR waren die ja noch da, nicht – wie viele Faschisten in der BRD – in mehr oder weniger hohen Staatsämtern, sondern in den Betrieben in der materiellen Produktion. Und dort betätigten sich viele von ihnen tatsächlich mit putschistischen Absichten. Aber das war zu diesem Zeitpunkt bereits eine verschwindende Minderheit der Akteure. Deren Ambitionen auf die Gesamtheit der Werktätigen zu verallgemeinern, war politisch oberflächlich, im gewissen Sinne für die Massen und deren berechtigte Forderungen sogar beleidigend.

Es gehört zu den ernst zu nehmenden Irrtümern der DDR-Führung, bereits damals eine gründliche Analyse der Ursachen versäumt und sich damit in die Lage versetzt zu haben, qualifiziertere Entscheidungen für den weiteren politischen Kurs der DDR zu treffen. Aber das sagt sich heute so leicht daher. Ich möchte als Person nicht in deren Haut gesteckt haben, denn ihre Verantwortung war riesengroß. Schon damals bestand die Gefahr, dass der Kalte Krieg in einen heißen umschlagen könnte. Ihn verhindert zu haben, standhaft geblieben zu sein, den Klassenfeind zu hindern, den noch zaghaft wachsenden Sozialismus bereits in der Wiege zu erwürgen, das ist die zu würdigende (und nicht zu verunglimpfende) historische Leistung.

 

Quelle: http://kommunistische-initiative.org/wie-ich-den-17-juni-1953-erlebte/#more-2068

 

 

Veröffentlicht in DDR

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