Kritik Dunkhase an Wagenknecht, Teil 2

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

Gestern habe ich den ersten Teil der in junge welt erschienenen Kritik Helmut Dunkhases an Sahra Wagenknecht in dieses Blog gestellt. Hier folgt Teil 2:

Anachronistische Marktkonzepte

 

»Wer Plan und Markt einander entgegensetzt, hat ohnehin wenig von wirtschaftlichen Prozessen verstanden«, verkündet Sahra Wagenknecht in ihrem neuesten Buch »Freiheit statt Kapitalismus« (Eichborn Verlag, Berlin 2011, S. 351). Ein kühnes Wort! Kommen wir zur Sache.

 

Die meisten Menschen würden wahrscheinlich zustimmen, daß es eine feine Sache wäre, wenn sich eine Volkswirtschaft so steuern und entwickeln ließe, daß von vornherein, d.h. durch einen Plan, dafür gesorgt werden könnte, jedes Produktionselement, jede arbeitende Hand oder jeden arbeitenden Kopf und jedes Gebrauchsgut zur rechten Zeit am rechten Ort zu haben.

 

Die einen glauben nicht daran; andere sind aus verständlichen Gründen dagegen, weil sie mit der durch den Plan vorausgesetzten anderen Eigentumsordnung bisherige Vorteile verlieren würden. Und dann gibt es die in der Regel gut bezahlten Apologeten, die uns erklären, warum Planwirtschaft nicht geht.

 

Kritik der Planwirtschaft ...

 

Ludwig von Mises legte 1920 in seinem Artikel »Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen« Einwände gegen eine sozialistische Planwirtschaft dar, die praktisch bis heute den Klassenkampf auf dem Feld der Theorie bestimmen. Mises war sich der politischen Funktion seiner Thesen, den Vormarsch des Sozialismus abzuwehren, wohl bewußt (»In einer Zeit, da wir uns dem Sozialismus immer mehr und mehr nähern...«). Dabei hatte er nicht nur die Oktoberrevolution im Sinn, sondern wähnte auch in Deutschland, Ungarn und Österreich sozialistische Parteien an der Macht.

 

Er behauptete, nur in einer Marktwirtschaft mit Geldpreisen ließe sich ökonomische Rationalität herstellen. Was über vage Schätzungen hinaus genauerer Berechnungen bedarf, komme ohne Arithmetik, d.h. die Rückführbarkeit auf eine Einheit nicht aus. Die Arbeitswerttheorie, die er als einzig möglichen sonstigen Kandidaten ansah, könne dies nicht leisten, weil sie zum einen die Heterogenität der Arbeit, zum andern die in den Materialien geronnene Arbeit nicht erfassen könne. Deswegen käme nur die Tauschwert-Rechnung in Frage. Ohne Rückführung auf Geld ließen sich auch keine rationalen Entscheidungen über verschiedene Varianten, z.B. beim Bau einer Eisenbahnstrecke, finden.

 

Schließlich sah Mises in der sozialistischen Gemeinwirtschaft Initiative und Verantwortung flöten gehen, denn: »Mit der Ausschaltung der materiellen Interessen Privater verschwindet die bewegende Kraft.«

 

Von nicht zu unterschätzender Wirkung war (und ist) auch die von Friedrich August von Hayek vorgetragene Kritik an einer zentralen Planwirtschaft. Ein großer Teil der in Wirtschaftsprozessen zu verarbeitenden Informationen sei nicht »objektiv« gegeben, sondern als in den Köpfen der Individuen verstreutes Wissen vorhanden. Zugänglich könne dieses Wissen nur dezentralisiert über die Reflexion der einzelnen Vorgänge in den Preisen gemacht werden. Beispiel1: Angenommen, eine Ressource für Zinn ist verschwunden. Alles, was die Zinnverbraucher wissen müssen, ist, daß ein Teil des bisher von ihnen verbrauchten Zinns nun profitabler anderswo verwendet wird und sie somit sparsamer mit Zinn umgehen müssen. Die dadurch (von einigen) ausgelösten Aktivitäten (Suche nach anderen Quellen, Einstellen auf die neue Nachfrage usw.) verbreiten sich schnell durch das ökonomische System und wirken sich letztlich auf alle Dinge aus, in denen Zinn oder ihre Substitute vorkommen. Die Kommunikation von Individuen, die jedes für sich nur einen sehr beschränkten Überblick haben, mündet in die Lösung: ein einziger Preis. In diesem Sinn sieht Hayek das Preissystem als eine Art Telekommunikationssystem an.

 

Ich sehe nicht, daß Wagenknecht einem dieser Kritikpunkte widerspricht oder wahrscheinlich widersprechen würde. Einzig in der Frage der Innovationsfähigkeit äußert sie sich, wenn auch unklar: Sie würdigt Entdeckungen und Erfindungen in öffentlichen Einrichtungen (S. 298f.), und auch Anreiz und Motivation müssen ihrer Ansicht nach in öffentlichen Unternehmen nicht geringer sein als in privaten, bemängelt aber auch, daß der Staat Innovationen von Unternehmen Knüppel zwischen die Beine wirft (S. 334). Auf ein und derselben Seite (S. 333) zitiert sie einerseits einen Ökonomen mit der Aussage, daß für eine »funktionierende« Konkurrenzwirtschaft die Eigentumsform egal sei, und andererseits, daß die Wahrscheinlichkeit »vernünftigen Wirtschaftens« in öffentlichen Unternehmen deutlich höher als in privaten sei - was auch immer »vernünftiges Wirtschaften« heißen mag. Jedenfalls bleibt unklar, warum für das, was sie »kreativen Sozialismus« nennt, der Markt unbedingt nötig ist. Ich komme auf die Innovationsfrage zurück.

 

... und Gegenargumente

 

Es können heute gute Gründe für die Zurückweisung der von der liberalen Schule vorgetragenen Einwände angeführt werden.

 

- Ökonomische Rationalität: Mises Behauptung, in einer Naturalwirtschaft könnten keine rational begründeten optimalen Entscheidungen getroffen werden, ist schon 1939 durch die Arbeiten des sowjetischen Mathematikers und Ökonomen Leonid Kantorowitsch widerlegt worden. Ausgehend von Untersuchungen zur optimalen Verwendung verschiedener Maschinentypen in einer Holzfabrik entwickelte er eine Methode, mit der die beste und günstigste Ausnutzung von Ressourcen und Transportnetzen u.a. ohne Rückgriff auf Preise bestimmt werden kann. Das war die Geburtsstunde eines neuen Zweigs der Mathematik, der Linearen Optimierung.2

 

Daß das Problem der Heterogenität der Arbeit durchaus im Rahmen der Arbeitswerttheorie gelöst werden kann, hat bereits der österreichisch-amerikansiche Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter, der aus anderen Gründen die Arbeitswerttheorie ablehnte, zugestanden.3 Die in der Ausbildung einer qualifizierten Arbeitskraft geronnene Arbeitszeit ließe sich abschätzen, indem man die Arbeitszeiten der Qualifikateure in ihren unterschiedlichen Qualifikationsstufen auflistet. Diese geronnene Arbeitszeit wird dann im Produktionsprozeß nach und nach auf die Produkte übertragen, wie bei einer Maschine.4

 

- Komplexität: Um die in den einzelnen Gütern enthaltenen Arbeitszeiten zu berechnen, genügt es, die direkten Arbeitszeiten in allen Produktionsstätten zu kennen. Das wissen wir seit Wassily Leontiefs Input-Output-Analyse, deren Ursprünge bis in die Vorbereitungen für den ersten Fünfjahrplan der Sowjetunion zurückgehen. Es läßt sich also ohne Markt und Geld eine ökonomische Rationalität auf der Basis der Arbeitszeitrechnung herstellen.

 

Computertechnik und Rechenverfahren sind heute so weit entwickelt, daß ein disaggregierter Plan für eine gesamte Volkswirtschaft in wenigen Minuten berechnet werden kann.

 

- Innovationsfähigkeit: Wie steht es um die Innovationsfähigkeit? Wenn ich morgens meinen Linux-Rechner hochfahre, werden mehrmals in der Woche Aktualisierungen und Verbesserungen angeboten, die ich mit einem Handgriff in meine Distribution übernehmen kann - oder auch nicht. Linux ist im gewissen Sinne ein Produkt antizipierter kommunistischer Produktionsweise. Das ist möglich, weil es als Softwareprodukt keine nennenswerten materiellen Ressourcen verschlingt. Dieses hochkomplexe Produkt entstand und entwickelt sich weiter in kooperativer Arbeit weltweit vernetzter Arbeitsgruppen, wobei die Potentiale des Internet als globales Kommunikationsmittel dienen.

 

Alle arbeiten unentgeltlich und dennoch ehrgeizig, und einen Wettbewerb gibt es auch: den um die beste Desktopumgebung. Linux hat Microsoft schon das Fürchten gelehrt, nicht nur wegen seiner Qualität, sondern auch wegen seiner Arbeitsweise. Vor einigen Jahren fiel bei Microsoft die bisherige Schranke, daß die einzelnen Arbeitsgruppen ihre Codes geheimhalten mußten.

 

Sie mußten einsehen, daß das die Entwicklung hemmt.

 

Linux gehört zu den Open-Source-Produkten, d.h. Produkten mit offengelegtem Quellcode. Einiges ließe sich sogar auf die materielle Produktion übertragen. Denkbar sind z. B. Foren und Wikis, in denen Erfahrungen, Tricks und neue Ideen für Produktionsprozesse wie Produkte ausgetauscht werden können.

 

Allein dieses Beispiel läßt ahnen, welche Produktivkraft durch die kommunistische Produktionsweise freigesetzt werden kann.

 

In der Literatur wird zwischen Prozeß- und Produktinnovation unterschieden. Zudem wäre es sinnvoll, drei Aspekte zu unterscheiden: Erzeugt das System starke Anreize für Innovation? Stellt es genügend Mittel für Innovation zur Verfügung? Und erzeugt es hinreichende Mechanismen für die Umsetzung in die Verbesserung der Wohlfahrt?5 Nach den Erfahrungen mit der Sowjetunion könnte der dritte Punkt der wichtigste sein: Die Sowjetunion hatte gut ausgestattete Forschungs- und Entwicklungsinstitute, die teilweise auch in den Betrieben angesiedelt waren. Der Schwachpunkt lag in der Umsetzung der Innovationen in den Betrieben. Die wichtigsten Gründe dafür waren eine schlecht funktionierende Versorgung mit notwendigen Materialien, übermäßige Schwerpunktlegung auf Militär und Raumfahrt bei gleichzeitiger nahezu vollständiger Abschottung von den Zivilbereichen, das Fehlen paralleler Produktionslinien. Auch hier zeigt sich: Es sind Mängel, die nicht jedem Sozialismus anhaften müssen.

 

- Informationsflüsse: Hayeks subjektivistisches Verständnis von Information ist vorwissenschaftlich.

 

Ökonomische Beziehungen gingen schon immer mit objektivierter Information einher, seien es Verträge, Schuldstöcke oder mit dem Abakus unterstützte Rechenvorgänge. Heute sind verstreute Informationen in Datenbanken speicher- und für jeden abrufbar. Natürlich kann kein einzelner Mensch Projekte wie das für den Airbus A380 überblicken; dennoch ist durch Informationsspeicherung und Produktkodierungstechniken unabhängig von den Köpfen der Menschen der Weg jeder Schraube zurückzuverfolgen.

 

Hayeks Auffassung des Preissystems als ein Telekommunikationssystem ist in Ordnung. Doch ergibt sich, wenn man den Preisbildungsprozeß als einen Algorithmus formuliert und mit den erforderlichen Schritten bei einer Planwirtschaft vergleicht, daß beim Markt mehr Informationsflüsse nötig sind als beim Plan.6 Planwirtschaft erweist sich auch hier als effektiver als der Markt.

 

Klassenkampf in der Theorie

 

Ludwig von Mises' Schrift »Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen« war direkt gegen die Oktoberrevolution gerichtet. Sein Schüler Friedrich August von Hayek setzte im beginnenden Kalten Krieg alles daran, die defätistischen Tendenzen im eigenen Lager zu bekämpfen und dem »totalitären« Sozialismus eine liberale Gesellschaftskonzeption entgegenzustellen und zur Dominanz zu verhelfen. Er schien Anlaß dafür zu haben, denn, so Hayek: »Die Lage ist sogar noch schlimmer, als es das bloße Fehlen eines Programms bedeuten würde; denn in Wirklichkeit unterstützen fast überall die Gruppen, die behaupten, dem Sozialismus entgegenzutreten, zur selben Zeit eine Politik, die, bei Verallgemeinerung der ihr zugrunde liegenden Prinzipien, nicht weniger zum Sozialismus führen würden als die erklärte sozialistische Politik.«7 Die ordoliberalen Vorstellungen von Walter Eucken hatten die politische Funktion, die planwirtschaftlich gefärbte Ordnung der Nachkriegsjahre abzulösen. Das war bekanntlich eine Zeit, wo selbst die CDU vom Sozialismus sprach. Es war also kein Zufall, daß Eucken Gründungsmitglied der von Hayek ins Leben gerufene Mont-Pèlerin-Gesellschaft war. Wagenknechts Favorit Ota Sik antwortete 1990 auf den Vorwurf, mit dem »Dritten Weg« in der Zeit des »Prager Frühlings« ein »zum Leben untaugliches Hybrid der geplanten Marktwirtschaft« eingeschlagen zu haben: »Schon damals war ich davon überzeugt, daß die einzige Lösung für uns ein vollblutiger Markt kapitalistischer Art ist. Und heute, nachdem ich zwanzig Jahre im Westen gelebt habe, zweifle ich nicht im geringsten daran.«8

 

Für alle, die den Kapitalismus vom Hals haben wollen, bleibt die Aufgabe unserer Zeit, den Marktliberalen ein moralisch und philosophisch kohärentes marxistisches Projekt entgegenzusetzen. Wer sein Heil in anachronistischen Marktkonzepten sucht, irrt nicht nur sachlich, sondern setzt nur, ob gewollt oder nicht, die unselige liberale Tradition fort, wirklichen Fortschritt, den Übergang zum Kommunismus verhindern zu wollen.

 

Anmerkungen

 

1 Friedrich Hayek, The Use of Knowledge in Society, p. 5-6; online unter:

Veröffentlicht in Kultur und Gesellschaft

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