"Marxistische Gruppe": Klassenkampf im Kopf
Die 1968er Studentenbewegung hat in Deutschland ein eigenartiges Phänomen ausgetrieben - den "Seminar-Marxismus". Ende der 1980er Jahre ging es mit der Marxistischen Gruppe - wie mit vielen Organisationen aus dem "ML"-Bereich auch - organisatorisch zu Ende. Nach der offiziellen Auflösung bestand aber das Periodikum Gegenstandpunkt weiter. Und heute erlebt diese Strömung eine kleine Renaissance. Das wieder auflebende Interesse am Marxismus bringt auch der MG einen gewissen Zulauf. Wer mit revolutionären Ideen liebäugelt oder auch bloss über den Kapitalismus etwas Ordentliches wissen will, gerät in eine Sackgasse, wenn er diesen Nebenpfad geht. Im Umfeld des Gegenstandpunkts wird man geöhnlich nicht zum Revolutionär, sondern bloss hochnäsig.
Im folgenden Text habe ich versucht, einige Kritikpunkte zu formulieren.
Die MG steht in dem Ruf, saubere Analysen zu machen. Unterstellt, das sei so - zu welchem Zweck macht sie das ? Oder, allgemein und nicht auf die MG bezogen: Wozu ist das Begreifen gesellschaftlicher Erscheinungen - Theorie - gut ?
Dass sich Menschen ein zutreffendes Bild von der Wirklichkeit machen wollen, ist zunaechst ein verbreitetes Beduerfnis und muss, ausser mehr wissen zu wollen, keinen noch anderen Zweck haben. Aber diese Unbestimmtheit - oder allgemeine unspezifische Bestimmtheit - liegt bei der MG nicht vor. Die Gruppe versteht sich als ein Zusammenhang von Menschen, die den Kapitalismus abschaffen wollen.
Die Frage, wozu Theorie gut sein soll, steht daher in ihrem Fall im Zusammenhang mit dieser Absicht. - Theorie, Welt erklaeren und begreifen soll dem Zweck dienen, den Kapitalismus abzuschaffen. Damit steht die Frage, wie Theorie und Kapitalismusabschaffen miteinander zusammenhaengen.
Darauf haben die Leute vom Gegenstandpunkt diese Antwort: Zuerst muss der Kapitalismus im Kopf abgeschafft werden. Wenn und soweit das gelingt, kann man sich daran machen. ihn wirklich abzuschaffen. Die Theorie ist das wesentliche Moment, der Schluessel.
Ist das so ?
Naehern wir uns einer Antwort zunaechst empirisch: Welche Rolle spielte die Theorie in den Revolutionen des 20. Jahrhunderts ?
Sie waren stets Ergebnis einer Lage, in der die herrschende Klasse Schwierigkeiten hatte, ihren Laden am funktionieren und zusammen zu halten. Zwei Revolutionswellen entstanden in Kriegs- und Nachkriegsverthaeltnissen - dem I. und dem II. Weltkrieg. Die erste Welle wurde von der Bourgeoisie ueberall niedergekaempft, mit der Ausnahme Russland. Die zweite Welle war nur dort erfolgreich, wo die Rote Armee stand, also in Osteuropa, mit Ausnahme Chinas, wo der Ausgang des II. Weltkriegs den Machtantritt der Kommunisten aber ebenfalls erleichterte. Im "westlichen" Einflussbereich wurde die griechische Revolution blutig niedergeschlagen. In den uebrigen westeuropaeischen Staaten, in denen es einen starken antifaschistischen Widerstand gegeben hatte, versuchten es die Kommunisten und ihre Verbuendeten angesichts des Kraefteverhaeltnisses, nicht zuletzt angesichts der Truppenmassen der West-Alliierten, gar nicht.
Theoretische Einsichten in gesellschaftliche Zusammenhaenge haben bei diesen Revolutionen eine bedeutende Rolle gespielt. Ihr sozusagen materieller Traeger waren hauptsaechlich die kommunistischen Parteien. Deren Staerke war die Theorie und eine feste, zu diszipliniertem, planvollen einheitlichem Handeln befaehigende Organisation.
Die Theoriebildung hatte Zweckcharakter
. Es ging nicht um "die Wahrheit schlechthin", sondern um diejenigen Aspekte, die vom Interessensstandpunkt der Arbeiterklasse aus gesehen nuetzlich waren fuer die Ableitung einer erfolgversprechenden politischen Strategie und Taktik. Diese gewissermassen utilitaristische Art der Theoriebildung fuehrte gelegentlich auch zur Ausblendung wichtiger Wirklichkeitsaspekte und Fehlern, aber uebers Ganze gesehen war dies die Art von Theoriebildung, die ihrem Zweck gerecht wurde: als Hilfe fuer den Umsturz der kapitalistischen Verhaeltnisse zu dienen.
In den kommunistischen Parteien sammelten sich nicht einfach die besten Theoretiker, sondern diejenigen Menschen, die am entschlossensten waren, die kapitalistischen Verhaeltnisse zu stuerzen
. Das ist nicht identisch. Die Entschlossenheit kam (kommt) nicht in erster Linie aus theoretischen Einsichten, sondern aus so "unbegriffen emotionalen" Beweggruenden wie dem, die Verhaeltnisse nicht mehr aushalten zu wollen oder zu koennen. Es waren (sind) nicht nur rationale, gedanklich stringente Argumente, die zu der Entscheidung fuehrten (fuehren), sich als Revolutionaer zu betaetigen, auch nicht nur eine Summe individueller Entscheidungen dafuer.
Obwohl die Entscheidung, ein Revolutionaer sein zu wollen, jeder einzelne Mensch selber treffen muss, spielt es fuer die Wahrscheinlichkeit dieser Entscheidung eine wichtige Rolle, in welchem "Milieu" diese Frage ueberhaupt aufkommt und wie sie beantwortet wird.
Eine der beguenstigenden Faktoren war an den entscheidenen "Wegmarken" des 20. Jahrhunderts das Vorhandensein einer Arbeiterkultur. Scheinbar so "politikferne" Erscheinungen wie kritische Literatur, Theater, Musik, die Pflege eigener Traditionen und Braeuche sind fuer die Herausbildung von Klassenbewusstsein durchaus nicht weniger wichtig als die richtige Theorie.
Es kommt dabei auch nicht darauf an, dass sich eine solche Arbeiterkultur Romantik und Sentimentalitaet, Anleihen bei den buergerlichen Aufklaerern, eine idealisierende Heroisierung der eigenen Klasse ("Proletkult, wie die MG das nennt) - und was der "irrationalen Verfehlungen" immer sein moegen - leistet. Worauf es ankommt ist, dass die unterdrueckte und ausgebeutete Klasse ein Bewusstsein von sich selbst als gesonderte soziale Klasse, von ihrer Stellung in der kapitalistischen/buergerlichen Gesellschaft und von der Bourgeoisie als ihrem Klassenfeind gewinnt. Fuehlen und denken, traeumen und analysieren, Brecht und Marx, Arbeiterbraeuche und Theorie schliessen einander in diesem Zusammenhang und fuer diesen Zweck nicht aus, sondern sind notwendige Elemente fuer die Entstehung von Klassenbewusstsein.
Klassenbewusstsein ist eine zwar nicht hinreichende, aber absolut notwendige Bedingung dafuer, dass die Lohnarbeiter den Kapitalismus stuerzen. Wo es entsteht, hat es aber stets zwei zueinander in Widersopruch stehende Seiten,
Widersprueche im Klassenbewusstsein:
Die eine Seite ist, dass die Stellung der Lohnarbeitenden im Kapitalverwertungsmechanismus bedingt, dass sie - zuletzt um des physischen Ueberlebens willen - ihre Arbeitskraft verkaufen und dafuer einen moeglichst hohen Preis (nebst relevanter Nebenbedingungen) herausschlagen muessen. Dabei stehen sie als Staatsbuerger, als juristische Personen des buergerlichen Rechts, zunaechst den Kapialisten als Einzelne gegenueber und damit in Konkurrenz zu den uebrigen Arbeitskraftanbietern. Die einzige Moeglichkeit, einen hoeheren Lohn durchzusetzen, die sich aus dieser schwachen Lage ergibt, besteht darin, das Angebot zu kartellieren, d.h., sich zu Gewerkschaften zusammenzuschliessen und Tarifvertraege zu erzwingen, die aus dem Einzelverkauf der Arbeitskraft in gewissem Mass einen Kollektiv-Verkauf - wenn auch weiterhin auf Rechnung jedes Einzelnen - machen. Das passiert zwangslaeufig auf dem Boden der "Kapitallogik" und ist, fuer sich genommen, in keiner Weise revolutionaer. Einen guten Preis fuer die eigene zu verkaufende Ware, die eigene Arbeitskraft, zu erreichen, bestaerkt gewoehnlich im Gegenteil die Meinung, man koenne es im Kapitalismus schon aushalten. (Dieser relativ gute Preis hat in der BRD ueber mehrere Jahrzehnte viel zur "Verbuergerlichung" des Bewusstseins der Arbeiterklasse beigetragen.)
Dabei gibt es aber noch andere Aspekte:
- Der Zusammenschluss zum quasi gemeinsamen Verkauf der je individuellen Arbeitskraft setzt voraus (und fuehrt danach vor Augen), dass die Staatsbuerger nicht einfach solche sind, sondern sich entlang des Eigentums teilen, naemlich in Eigentuemer von Produktionsmitteln und Nichteigentuemer von solchen, was die Notwendigkeit erst nach sich zieht, seine eigene Arbeitskraft an Fremde zu verkaufen, weil man sonst nichts zum Leben hat.
- Der gemeinsame Verkauf der Arbeitskraft fuehrt zu der Erfahrung, dass - zumindest in dieser Angelegenheit - nicht das Einzelhandeln des "autonomen Indivuduums" - des Staatsbuergers - erfolgreicher ist, sondern kollektives Handeln.
Die Konkurrenz untereinander wird dadurch nicht ausser Kraft gesetzt. Aber zumindest auf dem Gebiet des Verkaufs der Arbeitskraft ist es ziemlich unmittelbar einsehbar vernuenftig, dass Solidaritaet untereinander geuebt wird. Selbst um solche Einsichten muss schon ein hartnaeckiger Kampf um die Koepfe gefuehrt werden, weil die Logik des buergerlichen Alltags und das Dasein auch der Proleten als formal rechtsgleiche Staatsbuerger dem entgegensteht.
Was aus den oekonomischen Anliegen der Proleten also (im besten Fall) entsteht, ist die Einsicht in die Zweckmaessigkeit gewerkschaftlichen Zusammenschlusses, damit auch eine gewisse Einsicht in die Existenz der gegensaetzlichen sozialen Klassen - der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse.
Das reicht nicht fuer die Idee oder gar die Tat, mit dem Kapitalismus Schluss zu machen.Fuer Letzteres braucht es moeglichst genaue Einsicht in die oekonomischen/gesellschaftlichen Widersprueche, die das Kapitalverhaeltnis, deren historischen Verlauf, damit der Bedingungen und Kraefte, die zu einer bestimmten Zeit fuer eine wissenschaftlich abgeleitete Politik des Umsturzes zu beachten sind. Ausserdem muss, wer die Verhaeltnisse umstuerzen will, ungefaehr wissen, auf welche Verhaeltnisse er hinauswill. Es geht ja in einer Revolution, die den Proleten nutzen soll, nicht einfach darum, die Kapitalisten zum Teufel zu jagen, sondern um ein besseres Leben danach und ohne die Ausbeuter.
Dazu braucht es die Theorie - die Gesellschaftsanalyse, das Herausfinden einer Strategie und Taktik fuer die Revolution und ein Konzept fuer die Zukunft. Dafuer ist die Arbeit von Marx/Engels grundlegend - nicht nur deren oekonomische Analyse, sondern die Erkenntnismethodik (das, was man gemeinhin dialektischen/historischen Materialismus nennt), mit der sie durchgefuehrt wurde und die ein allgemeingueltiges Instrument fuer jedwede Gesellschaftsanalyse auch heute ist.
Weder der nur-gewerkschaftliche Kampf um die Hoehe des Lohns und aushaltbare Arbeitsbedingungen noch blosses Theoretisieren koennen das Kapitalverhaeltnis zum Einsturz bringen. Das eine fuehrt, fuer sich allein, zum Sich-Einrichten in den Verhaeltnissen. Das andere fuehrt, fuer sich allein, zur Ausbildung von Sekten, die sich mit der Attituede der "grossen Durchblicker" ueber die "Dummkoepfe, die auf den Kapitalismus hereinfallen" erhaben fuehlen, waehrend sie in Wirklichkeit, wie nicht anders moeglich, genau so "kapitalistisch funktioneren" wie alle anderen "Dummkoepfe" auch.
Um die Verhaeltnisse umzustuerzen, muss ein Amalgam gegossen werden, in dem die Alltagsbeduerfnisse der Proleten unter kapitalistischen Bedingungen, ihr trade-unionistischer Zusammenschluss fuer begrenzte Zwecke - und auch einen solchen muss man erst einmal erreichen ! -, das theoretische Erfassen der gesellschaftlichen Verhältnisse, die Ausbildung von Klassenbewusstsein, eine zweckmässige Organisation zur Durchsetzung der Gegenwarts- und Zukunfstinteressen der Arbeiterklasse, ein politisches Programm mit dem Ziel der Revolution und plausible Vostellungen von einer sozialistischen Gesellschaft so miteinander verschmolzen werden, dass die Machtfrage gestellt und zu eigenen Gunsten entschieden werden kann.
Diese verschiedenen Elemente, deren jedes einzelne absolut notwendig für die Revolution ist, einander entgegenzustellen, anstatt sie miteinander zu verbinden, ist der Kardinalfehler der MG.
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update:
Eine Kritik der MG und ihres Gegenstandpunkts - der Name der Zeitschrift ist Programm -, die ich treffend finde, habe ich hier gefunden:
http://kulturkritik.net/erlauter/mg-moralismus.html