Presse- und Meinungsfreiheit und Libyen
Das Ideal der westlichen Pressefreiheit ist, dass die sogenannte Vierte Gewalt die Bürger objektiv und sachlich informiert und, soweit subjektive Meinungen der Medienleute verbreitet werden, diese sauber von der Berichterstattung getrennt und offen als Meinungsäusserung ausgewiesen sind. Vermischung dieser beiden Elemente gilt als unseriös und schlechter Journalismus.
Mit diesem Ideal verhält es sich wie mit der Sonntagspredigt über die christliche Nächstenliebe und der Segnung von Kriegswaffen durch christliche Priester. Das Ideal ist sehr schön, die Realität ekleerregend dreckig. Beispiel Libyen:
Was weiss der gewöhnlich informierte Bürger eigentlich über Libyen ? Über seine jüngere Geschichte ? Über die Rolle des Gaddafi-Regimes ? Was weiss er über die Aufständischen, darüber, wer sie sind und was sie wollen ? Was weiss er über die Motive und Ziele der Mächte, die sich inLibyen einmischen ?
Das Ideal der westlichen Pressefreiheit hat ein Pendant - den informierten Bürger, der sich selbständig ein eigenes Urteil bilden kann, weil er von den Medien wohlinformiert ist und dies auf dieser Tatsachenbasis auch kann.
In diesen Tagen hört man tatsächlich viele und unterschiedliche Urteile. Fast allgemein sind solche:
- Gaddafi ist ein Verrückter.
- Das Leben der Bürger ist ihm bestenfalls egal. Mit Vorliebe lässt er sie abschlachten.
- Man muss fürchten, dass er gegen die eigene Bevölkerung Giftgas einsetzt.
- Das Regime Gaddafi ist bei so gut wie allen Libyern verhasst, es ist völlig isoliert.
- Gaddafis Clan hat Millliarden Öleinnahmen an sich gerissen und sie ins Ausland verbracht.
Urteile hört man auch über die Opposition:
- Sie ist friedlich und zivil.
-Sie ist demokratisch.
- Sie repräsentiert den Willen der überwältigenden Mehrheit der Libyer (die 300 Getreuesten Gaddafis ausgenommen).
Auf welchen Tatsachen beruhen diese Urteile ?
Gibt es über Gaddafis Geisteszustand medizinische Befunde, zu denen sich findige Reporter Zugang verschafft haben ? Wo hat er mutwillig und absichtlich Zivilbevölkerung abschlachten lassen ? Auf welche Beweise oder wenigstens Indizien stützt sich der doch ungeheuerliche Verdacht eines beabsichtigten Giftgaseinsatzes ? Wie ist zu erklären, dass man in den TV-Bildern sieht, dass riesige Menschenmassen für Gaddafi demonstrieren, wenn er doch bloss noch dreihundert Anhänger hat ? Wo ist die Recherche, dass die Milliardenguthaben im Ausland Gaddafis persönlicher Besitz sind und nicht die des libyschen Staates ?
Wie geht die Deklarierung der Opposition als zivil und friedlich damit zusammen, dass diese bewaffnet ist, einen militärischen Vormarsch auf Tripolis angekündigt hat, sich mit den Regierungstruppen Kämpfe liefert, die einem gewöhnlichen Bürgerkrieg zum Verwechseln ähnlich sehen ? Müssen die Waffen der Aufständischen nicht gerade so wie die der Gaddafi-Truppen zwangsläufig auch Zivilisten treffen ? Warum ist das bei den einen, soweit zugegeben, ein bedauerliches Versehen, bei den anderen völkermörderische Absicht ? Warum sind die Unbeteiligten im einen Fall menschliche Schutzschilde, im andern bedauerliche Kolateralschäden ? Kennt man die politischen Ziele der Opposition, und sind die so, dass man sie demokratisch nennen kann ? Was belegt die Behauptung, sie repräsentiere das Volk - die TV-Bilder von ihren Kundgebungen können es nicht sein, weil hier regelmässig zu sehen ist, dass diese eher kleiner sind als die pro Gaddafi.
Nein, die Urteile sind nicht das Ergebnis des selbständigen Denkens der Bürger, das sich auf solide Tatsachen stützt. Die für solche Urteile wesentlichen Tatsachen werden von den Medien gar nicht geliefert.
Was wäre denn nötig, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können ?
Man müsste z. B. wissen, wie sich der Lebensstandard der Bevölkerung unter dem Gaddafi-Regime entwickelt hat, wie in Libyen der Reichtum verteilt ist, was der Staat für die Bürger leistet und was nicht, wie die staatlichen Institutionen aufgebaut sind und funktionieren und welchen Einfluss die Bürger auf sie haben. Man müsste wissen, wer die Opposition ist, welche Ziele sie hat, wie und in welcher Hinsicht sie den libyschen Staat verändern will - so gut wie nichts davon ist bekannt.
Wie kommen also die Urteile in die Köpfe ?
Sie sind das Resultat dessen, was in den Medien zu erfahren ist. Die Medien teilen aber die wesentlichen Tatsachen nicht mit, sondern liefern die Urteile selbst. Sie sind es, die die die eine Seite als blutrünstig, diktatorisch und gar völkermörderisch charakterisieren, die andere als demokratisch, zivil und friedlich. - Die Urteile sind das Ergebnis nicht sachlicher Information, sondern der für die Medienkonsumenten vorgefertigten Wertungen. Dies Wertungen sind derart, dass sie einen militärischen Angriff auf Libyen zu rechtfertigen scheinen.
Das ist der Zweck der Medienübungen. Die Vierte Gewalt ist die Kriegsfront der kriegführenden Mächte gegen die Denk- und Urteilsfähigkeit der eigenen Bürger. Die Verkommenheit der Journaille, die Manipulation und Desinformation haben eine Pendant - den nicht selbständig urteilenden, manipulierten, dummen und unmündigen Bürger, der sich nicht nur über die Tatsachen in Libyen täuscht, sondern über sich selbst. Er meint freier Bürger mit einer eigenen Meinung zu sein, während er in Wirklichkeit stupider manipulierter Untertan, Spielzeug an den Fäden der Mächtigen ist. Im postmodernen Neusprech wird Meinungsfreiheit und Demokratie genannt, was so ziemlich das genaue Gegenteil ist.