Seriöses zu Gramsci und Zivilgesellschaft

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Festungen und Kasematten
Marxismus. Die Zivilgesellschaft und ihr Verhältnis zum Staat – zum 75. Todestag ­Antonio Gramscis

Von Alberto Burgio


Einer der bedeutendsten marxistischen Denker des 20. Jahrhunderts: Antonio Gramsci (1891–1937) Foto: jW-Archiv
Am 27. April 1937 starb, gesundheitlich geschwächt durch langjährige Haft, der marxistische Philosoph Antonio ­Gramsci. Am 22. Januar 1891 geboren, wurde er 1913 Mitglied der PSI, der Sozialistischen Partei Italiens. 1921 hatte er maßgeblichen Anteil an der Gründung der Kommunistischen Partei und war ab 1922 deren Vertreter im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale. Am 8. November 1926 wurde er verhaftet und durch ein faschistisches Sondergericht zu 20 Jahren Zuchthaus verurteilt. In den Kerkern von Ustice, Mailand und Turin verfaßte er seine umfangreichen »Gefängnishefte«, die bis heute als sein theoretisches Erbe gelten.

Anläßlich seines Todestages veröffentlicht jW exklusiv einen Text des italienischen Philosophen Alberto Burgio (Universität Bologna).


jW-Dossier: Antonio Gramsci


Noch heute wird im liberalen Sprachgebrauch der traditionelle Gegensatz zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft betont. Der Staat steht dabei für Macht und Unterdrückung, die Zivilgesellschaft für freie Entfaltung und Individualität. Dieses ideologische Schema entstand seit dem 16. und 17. Jahrhundert im bürgerlichen Kampf um die Emanzipation von der feudalen Autokratie, dem ancien régime. Charakteristisch für es sind die Idee des sozialen Vertrages (Locke) und die Vorstellung von wirtschaftlich-politischen Klassen (Mandeville).

 

Der ideologische Gegensatz zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft vertiefte sich nach der Französischen Revolution. Die liberalen Kritiker der Revolution (von Constant bis Tocque­ville) identifizierten den Staat mit der Gewaltherrschaft der Jakobiner, die von den »teuflischen« Theorien Rousseaus inspiriert worden sei. Sie forderten demgegenüber die Rechte der Gesellschaft ein, zu der sie auch alle Grundbesitzer und den absinkenden Adel zählten.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Hegel – als »Philosoph des Staates« betrachtet – zur Zielscheibe der liberalen Polemik. Diese verstärkte sich noch nach der Geburt der organisierten Arbeiterbewegung und nach den dramatischen Ereignissen der Pariser Commune.

 

Die Oktoberrevolution in Rußland gab der Ideologie eines abstrakten Gegensatzes Staat/Zivilgesellschaft neue Nahrung. Sie radikalisierte sich. Einige der liberalen Haupttheoretiker (Hayek, Mises, Popper) erarbeiteten eine eindeutige historische Genealogie: Von Rousseau führe eine direkte Linie über Hegel und Marx zu den »totalitären« Bolschewiki. Heute kann man dieses polemische Schema leicht demontieren. Die bloße Beobachtung zeigt, daß der Staat, gegen den die Liberalen so gerne wettern, ihr eigener ist. Der bürgerliche Staat schützt – auch in der Form einer liberalen Demokratie – die Macht des privaten Kapitals und die Vorherrschaft derjenigen Klasse, die über ihn die Kontrolle ausübt.

 

Ideen der Herrschenden

 

Die bürgerlich-demokratischen Staaten und ihre Regierungen haben dem Kapital erlaubt, weltweit ohne Regeln und Grenzen zu operieren und gigantische Finanzblasen zu erzeugen. Gewerkschaften, die versuchten, die Interessen der Lohnabhängigen zu verteidigen, wurden dagegen in ihren Rechten eingeschränkt – bis hin zu ihrer Zerschlagung.

Die Staaten der Europäischen Union schlossen die Verträge von Maastricht und Lissabon ab und haben die wichtigsten europäischen institutionellen Strukturen ohne jede demokratische Mitbestimmung aufgebaut. Ihre Krisenpolitik besteht darin, schwächeren Ländern (Griechenland, Portugal, Spanien und Italien) in neokolonialistischer Manier eine Roßkur aufzuzwingen. Was durch Kürzungen im Sozialbereich und bei den Löhnen sowie durch Steuererhöhungen für Arbeiter und Angestellte an Geld zusammenkommt, wird vor allem an »notleidende« Banken und Konzerne weitergeleitet.

 

Wir wissen, daß eine rationale Kritik gegen ein ideologisches Schema schwer aufkommen kann, das tief verankert und machtgestützt ist. Der Kampf der Ideen und theoretischen Modelle wird zum politischen Kampf, letztlich zum Klassenkampf. In diesem Sinne haben der junge Marx und Engels geschrieben, daß »die herrschenden Ideen einer Zeit (…) stets nur die Ideen der herrschenden Klasse« sind. Deshalb behält auch heute der ideologische Diskurs, der die Zivilgesellschaft als »Feld der Freiheit« dem Staat gegenüberstellt, seine ganze Überzeugungskraft, trotz all seiner Paradoxien. Das Kapital, das den Staat beherrscht, darf sich zugleich als dessen Opfer darstellen und seine Ansprüche als angeblicher Vertreter der Zivilgesellschaft anmelden.

 

Mit dem Begriff der »herrschenden Ideen« sind wir beim Thema der Hegemonie und damit bei einem der größten Denker des 20. Jahrhunderts, bei Antonio Gramsci. In seinen Quaderni (»Gefängnishefte« 1929–1935) hat er die erste systematische Analyse der Struktur und Funktion ideologischer Macht (die er als »hegemonial« definierte) in der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit geleistet. Gramsci ist damit eine wichtige Quelle, um die Polarität Staat/Zivilgesellschaft neu zu überdenken und den Gebrauch dieser Schlüsselbegriffe im alltäglichen politischen Diskurs zu entmystifizieren.

 

Gramscis Ausführungen zu dem schwierigen Komplex können hier nur summarisch referiert werden. Er vergleicht die Entwicklung im Osten (Rußland vor und nach 1917) mit der im kapitalistischen Westen. Er beschäftigt sich mit der Geschichte der Modernisierung in verschiedenen europäischen Ländern (besonders in Frankreich und Italien); mit dem Thema des »Verschwindens« des Staates, mit den neuen Formen einer »Kommandowirtschaft« (im Faschismus) und den neuen Verknüpfungen zwischen Produktion und Gesellschaft (im Fordismus). Stellen wir also das Wesentliche heraus, was die Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft im zeitgenössischen Kapitalismus betrifft, und fassen wir das zusammen, was Gramsci dazu an neuen theoretischen Erkenntnissen in die Diskussion eingeführt hat.

 

Kritik am Vulgärmarxismus

 

Beginnen wir beim traditionellen Schema, das, wie wir gesehen haben, den Staat ohne Vermittlung der Zivilgesellschaft entgegensetzt. Der Staat verkörpert hier die politische Macht mit exklusiver Kompetenz (als eingeübte Souveränität, normative Macht und Entscheidungsgewalt erga omnes – gegenüber allen). Die Zivilgesellschaft erscheint als Sphäre des informellen Agierens zwischen den privaten Individuen, als Terrain ihrer Aktivitäten und wirtschaftlichen Interaktionen. Ein Terrain, das beansprucht, möglichst frei von Macht und Beeinflussungen von außen zu sein.

 

Diese schematische Vorstellung wurde auch vom Vulgärmarxismus übernommen, gegenüber dem Gramsci nicht zufällig (wie bereits sein wichtigster Lehrer Antonio Labriola) Kritik geübt hat. Die Konzeption einer einseitigen und mechanischen Hierarchie Staat/Gesellschaft ist nichts anderes als die Umkehrung des liberalen Schemas. Dem Staat kommt dann – auch in Gestalt einer »Diktatur des Proletariats« – die Macht zu, die Gesellschaft zu formen.

Diesem fälschlicherweise an Marx angelehnten Verständnis setzt Gramsci einen sehr viel komplexeren Begriff vom Verhältnis Politik/Gesellschaft/Produktion entgegen. Wie für Marx überwiegt für ihn die Wichtigkeit der »Produktionsweise« diejenige der politischen Institutionen. Aber zwischen der politisch-institutionellen Macht und dem Feld der produktiven Tätigkeiten bestehe eine dialektische Beziehung (d.h. eine Interaktion). Entgegen der liberalen oder auch der anarcho-syndikalistischen Vorstellung sieht Gramsci die Unterscheidung zwischen wirtschaftlicher Aktivität und politischem Handeln letztlich als rein methodischer, nicht inhaltlicher Natur an. »In der Tat« handele es sich bei der einen und der anderen um »dieselbe Sache«, oder sie »identifizieren sich sogar miteinander«.

Dabei erfindet Gramsci nichts Neues. Es geht ihm um die Erweiterung der Funktionen von Politik. Das stand bereits im Zentrum der theoretischen Debatten der Dritten Internationale und des Austromarxismus. Auch die Gedanken des einflußreichen und theoretisch beschlagenen deutschen Politikers Walther Rathenau kreisten um dieses Thema. Seit Beginn der kapitalistischen »Weltwirtschaftskrise« 1929 wurden Staatseingriffe in die Wirtschaft aktuell. Der Keynesianismus und der faschistische Korporatismus waren zwei Spielarten davon.

 

Gramsci beschreibt diese Entwicklung mit einem Beispiel, das auch heute noch aktuell ist. Die Staaten würden sich nicht nur damit beschäftigen, »den Produktionsapparat zu erhalten, so wie er heute gegeben ist«, sondern auch mit seiner »Reorganisation, um ihn parallel zum Bevölkerungswachstum und zu den kollektiven Bedürfnissen zu entwickeln«. In diesem Zusammenhang sind für ihn besonders die Neigung zur protektionistischen Abschottung der Nationalstaaten, zum Preisdumping auf den Märkten und zur staatlichen Rettung von Konzernen vor dem Zusammenbruch bemerkenswert. Das würde er wohl auch zur gegenwärtigen Situation kritisch anmerken. Gramsci erinnert diesbezüglich an Lenins Formel von der »Verstaatlichung der Verluste und industriellen Defizite«.

Aber die Quaderni fügen ein neues Element zu diesen Überlegungen hinzu. Nach Ansicht Gramscis »besetzt« die Politik nicht nur die Wirtschaft, beginnend seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (vor allem ab 1870). Die staatliche Sphäre begrenzt sich nicht auf das Planen und Fördern von Produktion. Sie expandiert auch auf dem Gebiet der Kultur, der Erarbeitung des öffentlichen Diskurses, der Ideologie und der Propaganda, also in die Richtung, die wir als Produktion der Subjektivität bezeichnen könnten. Dies bezieht sich auf die noch heute gültige Tatsache, daß es unmöglich ist, eine moderne Gesellschaft ohne den Konsens und die Loyalität der Regierten zu regieren. Dieser Fakt zwingt die herrschende Klasse, mit den Beherrschten »spontan« übereinzustimmen, wie Gramsci in absichtlich paradoxer Art schreibt.

 

Hegemonie und Zwang

 

Die Analyse dieses Problems führt zu einem radikalen Umdenken. Wenn es wahr ist, daß die politisch-institutionellen Apparate immer weitere und komplexere Funktionen entwickeln, müssen die Begriffe »Staat« und »Zivilgesellschaft« (ebenso wie »Politik« und »Wirtschaft«) neu und zeitgemäß definiert werden. Das Ergebnis dieses Überdenkens ist eine neue Staatstheorie, gegründet auf eine neue Theorie der Beziehungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft. Dies setzt eine neue Definition der Zivilgesellschaft voraus.

In den Quaderni hat der »Staat« in der Tat zwei verschiedene Bedeutungen: Im engeren Sinne (als der »sogenannte Staat«, der »politische Staat« oder die »politische Gesellschaft«) ist die »Staatsgewalt« damit beauftragt, die Interessen der herrschenden Klasse zu verteidigen bzw. ihre unmittelbare Machtausübung (»Diktatur«) zu gewährleisten.

 

Demgegenüber ist unter dem »integralen Staat« nicht nur der Regierungsapparat zu verstehen, sondern auch die Institutionen, die die »herrschenden Ideen«, d.h. die kulturelle Hegemonie der Herrschenden produzieren und absichern. Gramsci formuliert an einer Stelle: »Staat = politische Gesellschaft + Zivilgesellschaft, d.h. gepanzerte Zwangshegemonie«. Die Zivilgesellschaft bestimmt nicht nur über die wirtschaftlichen Aktivitäten, sondern schafft Strukturen und Funktionen, die den gesellschaftlichen Konsens organisieren. Dieses Verständnis des Staates war neu und ist unentbehrlich, um den Stand der Dinge zu verstehen.

 

Wie man sieht, unterstreicht Gramsci mit Nachdruck die von ihm vorgenommene Verwandlung der üblichen Begriffe von »Staat« und »Zivilgesellschaft«. Neu ist in der Tat die Definition von »Zivilgesellschaft« in den Quaderni, die mit dem Konzept der Hegemonie korrespondiert. Die Zivilgesellschaft, schreibt Gramsci mehrfach, konstituiert einen »Hegemonieapparat«, sprich eine »Sphäre der komplexen Überstruktur«. Gemeint sind damit die Systeme der Bildung und Information für die Massen, die religiösen Institutionen und die politischen und gewerkschaftlichen Organisationen. All dies sind Mittel oder können es sein, um Werte und fundamentale Überzeugungen zu produzieren und zu vermitteln, um das Ziel zu erreichen, Zustimmung für die Regierungspolitik zu organisieren.

 

Gramsci ist davon überzeugt, daß dieser »bürgerliche Verein«, diese »robuste Kette von Festungen und Kasematten« – wie er die Zivilgesellschaft definiert – eine entscheidende Rolle für die Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse und die soziale Kontrolle spielt. Entscheidend war die Entdeckung der Schlüsselfunktion der Ideologie. Die aktive Beteiligung der Massen an den Reproduktionsprozessen, am öffentlichen Diskurs (Erziehung, Kultur, Ideologie, Religion, Propaganda) ist eine fundamentale Aufgabe der Politik geworden. Die »öffentliche Meinung« muß nicht nur beeinflußt, sondern möglichst im voraus gebildet werden, um »zwanglosen« Konsens zu ermöglichen.

Daher widmet Gramsci den »Intellektuellen« eine große Aufmerksamkeit. Sie sind es, die in verschiedener Art und Weise an der Entstehung des öffentlichen Diskurses beteiligt sind. Sie erfüllen die Aufgabe, empfindlich und kritisch wie sie sind, die »spontane« Zustimmung der großen Masse der Bevölkerung zu ermöglichen. In einem Wort, sie sind die »Funktionäre« der Hegemonie, von zentraler Bedeutung für das Funktionieren der Zivilgesellschaft.

 

Gramsci setzt einen starken Akzent auf die »Befangenheit« der Zivilgesellschaft, wenn man sie als Teil des »integralen Staates« betrachtet. Selbstverständlich in seiner erweiterten Struktur, die die »aktive Zustimmung der Untertanen« schaffen soll. Die herrschende Klasse bestimmt das »System der Produktion«, auf dem die Macht des Staates beruht. In diesem Sinne ist er mehr »Wirtschaftsmakler« der herrschenden Klasse und zugleich »Ausdruck der wirtschaftlichen Situation«, die die sozialen Strukturen prägt.

 

In den Quaderni wird die Zivilgesellschaft als ein System der »politischen und kulturellen Hegemonie einer sozialen Gruppe im Inneren der Gesellschaft« definiert, als »hegemonialer Apparat einer sozialen Gruppe gegenüber dem Rest der Bevölkerung«. Sie fungiere wie der »strukturelle ›Plan‹«, entsprechend »zur Funktion der Hegemonie« der herrschenden Klasse in der Gesellschaft.

 

Der moderne Fürst

 

Angelehnt an Machiavelli spricht Gramsci vom »modernen Fürsten«, wenn er die Strategie der Kommunistischen Partei benennen will. Dem hegemonialen Apparat der herrschenden Klasse und ihrem Druck gilt es etwas entgegenzusetzen. Nach Gramsci geht es um den »Kampf zwischen zwei Hegemonien«. Der Kampf der Arbeiterklasse und ihrer Alliierten gegen das Kapital erfordert die Ausgestaltung einer Art Gegenhegemonie. Es geht darum, einen »Embryo« des Neuen zu bilden, einer neuen »staatlichen Struktur«.

 

»Der moderne Fürst« muß zunächst, schreibt Gramsci, »der Ausrufer und Organisator einer intellektuellen und moralischen Reform« sein. Er muß dann eine eigene Zivilgesellschaft ausbilden, autonom und unabhängig von der Struktur der herrschenden Klasse. Dies kann selbstverständlich nicht unabhängig vom Kräfteverhältnis (und dem Konflikt) zwischen den sozialen Klassen geschehen – daran hat Gramsci keinen Zweifel. Seine Analyse erscheint heute unvermindert aktuell: Ein wertvolles kritisches Gegengift gegen einen ideologischen Rückfall. Denn in den letzten 30 Jahren haben sich unter der Hegemonie des Neoliberalismus große Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft ergeben.

 

Die Quaderni kehren mehrfach zurück zum mehrdeutigen Status der Zivilgesellschaft. Um den sozialen Konsens zu erhalten, bezieht diese die Gesamtheit von »privaten« Vereinen und Institutionen mit ein – als »Festungen und Kasematten« im Vorfeld der staatlichen Macht. Zugleich läßt sie »der herrschenden Klasse die Initiative«, so daß sie ihre eigenen speziellen Interessen verfolgen kann. Es bleibt unklar, warum Gramsci schreibt, daß die sozialen Organismen, die der herrschenden Klasse die Initiative überlassen, »oberflächlich« als privat bezeichnet werden. In welchem Sinne »oberflächlich«?

 

Mit aller Wahrscheinlichkeit versuchte ­Gramsci, uns die Gefahren dieser angeblichen Privat­heit zu zeigen. Auch sie erfüllt eine öffentliche Funktion, was den sozialen Konflikt und die tatsächliche Ausübung der politischen Macht betrifft. Und das, weil die Strukturen der Zivilgesellschaft dazu da sind, Zustimmung und Legitimation für das staatliche Agieren zu beschaffen.

 

Im wesentlichen scheint Gramsci bereits eine Tendenz aufzuzeigen, die uns heute vor Augen steht: Eine Verwirrung zwischen privatem Bereich und der öffentlichen Sphäre. Was einst »privat« war (die großen internationalen Unternehmen und die Finanzmärkte) wird zunehmend wie eine Sache des Staates betrachtet (man handelt in der Tat wie öffentliche Institutionen, die in der Lage sind, ihre Entscheidungen durchzudrücken). Andererseits werden die Staaten privatisiert, besser gesagt: dem Willen der privaten Interessen unterworfen.

 

Man muß sich daran erinnern, daß die Gegner von Gramsci – als man ihn als gefährlichen Unterstützer von subversiven Positionen betrachtete – seine Intentionen nicht mißverstanden. Gramsci war ein radikaler Kritiker der sozialen und politischen Totalintegration in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Es ist auch kein Irrtum, daß Gramsci sich positiv auf Rousseau bezog. Mit deutlicher Kritik am privaten Charakter der Zivilgesellschaft lenkt er in den Quaderni wieder den Blick auf den erhellenden zweiten Teil von Rousseaus »Diskurs über die Ungleichheit« (1755), in dem der französische Philosoph schreibt, daß »der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, (…) der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft« war.

 

Schon Rousseau verstand also die Einheitlichkeit des Machtsystems, das sich auf der Basis der bürgerlichen Zivilgesellschaft zusammenschließt – die Herstellung der entsprechenden Ideologie, die zur materiellen Struktur der Produktionsweise paßt und sie rechtfertigt. Eine Einheit, die Marx ein Jahrhundert später metaphorisch als »allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und die sie in ihrer Besonderheit modifiziert« beschreibt (»Einleitung zu Kritik der Politischen Ökonomie«).

 

Dies sind Texte, die auch heute noch kritisches Bewußtsein erzeugen können, gegen die geltende Ideologie der Neutralität und Reinheit der Zivilgesellschaft.

 

Übersetzung aus dem Italienischen: Victoria Knopp/Reiner Diederich

 

junge Welt

 

via http://www.kominform.at/article.php/20120426194030441

 

 

Veröffentlicht in Kommunisten

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