Spiegelfechten tut nicht weh

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Der folgende Text ist 2010 geschrieben. Leider ist er noch aktuell. Es geht um die Illusionen über den bürgerlichen Staat und die bürgerliche Demokratie.

 

 

Stefan Sasse hat beim Spiegelfechter einen Artikel eingestellt, den er mit "Wir brauchen einen aktiveren Staat" überschrieben hat. In diesem Text scheint beispielhaft auf, mit welchem Dilemma sich bürgerliche Demokraten heute herumschlagen.

 

Da ist einmal die Realität des gesellschaftlichen und politischen Lebens. In der geht es schnöde zu. Die Regierung macht weder, was die Bürger wollen, noch das, was diesen gut tut, sondern eher das Gegenteil. Die Bürger selbst bringen nicht viel mehr zustande, als auf das Gerede von Reformen hereinzufallen und darauf zu hoffen, dass die Regierung wenigstens das Schlimmste verhindern werde und im übrigen die Zeiten wieder besser werden, irgendwann; oder die Regierungspolitik zwar als gegen die eigenen Interessen gerichtet zu durchschauen, daraus aber nicht mehr als misslauniges Nörgeln und kindisches Beschweren abzuleiten. - "Dann geh ich nicht mehr zur Wahl, ätsch." "Dann wähl ich Protest, ätsch." "Die sind doch alle korrupt."

 

Zweitens ist da das bürgerlich-demokratische Ideal. Alle Macht geht vom Volke aus. Der Staat, das sind wir alle. Parlamente und Regierung, der ganze Staatsapparat sind für die Bürger da. Aber in diesen traurigen Zeiten muss man immer dazusagen: "eigentlich". Denn in Wirklichkeit sind sie es offensichtlich nicht. So wird alles ein "Sollte - ist aber nicht".

 

Nun könnte man, wenn Realität und Ideal so weit auseinanderklaffen, auf die Idee kommen, die eigenen Vorstellungen zu überprüfen. Vielleicht ist Demokratie ja gar nicht, wofür sie gehalten wird ? Vielleicht ist das ja gar nicht unser Staat ? Vielleicht geht es in der Politik ja gar nicht um das Wohl der Bürger ? Vielleicht ist der "Gesellschaftsvertrag" ein Märchen aus vergangenen Zeiten (das übrigens auch zur Zeit seiner Erfindung eins war) ? Vielleicht muss man die Verhältnisse ändern, wenn sie für die grosse Mehrheit der Bürger nicht passen ?

Darauf könnte man kommen. Aber Stefan Sasse kommt auf etwas anderes:

Vorwärts - zurück zu den alten Illusionen !

 

" ... Zu unserem Glück ist der Ausweg aus dem jahrelangen Siechtum, in dem unsere Gesellschaft dahinvegetiert, gar nicht so radikal wie das den Anschein hat.

Der Ausweg besteht darin, die Fesseln abzuwerfen, die wir uns selbst auferlegt haben und den Einflüsterungen der Krankmacher zu widerstehen. Der Staat ist nicht so unfähig, nicht so gehemmt, nicht so machtlos wie dies den Anschein hat. Er ist, vor allem, alternativlos. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass ohne eine starke Rolle des Staates blankes, anarchisches Chaos herrschen wird, in dem die Stärksten alle Schwachen rücksichtslos in den Staub treten. Es liegt in der Natur der Sache, dass es immer weniger Starke als Schwache geben wird. Die erste und wichtigste Aufgabe des Staates war und ist jedoch, die Schwachen vor den Starken zu schützen." ...

"Lasst uns dem Markt endlich wieder Zügel anlegen! Lasst ihn uns unseren Befürfnissen formen, anstatt uns ihm zu unterwerfen! Formen wir einen Staat nach unseren Bedürfnissen als Werkzeug der Wahl." ...

"Es braucht unsere Mitarbeit und kritische Begleitung. Und es braucht unser Vertrauen. Wir brauchen einen Staat, dem wir uns wieder anvertrauen können, einen Staat, dem wir nicht vollständig misstrauen oder den wir innerlich bereits aufgegeben haben. Wir müssen diesen Staat konstituieren, wir allein."

 

In dieser Endlosschleife bewegen sich die Anhänger der bürgerlichen Demokratie, seit sie erfunden ist. Der Kern des Dogmas ist, die formale Rechtsgleichheit der Bürger für wirkliche Gleichheit in nuce zu halten. In dieser formalen Gleichheit ist aber die wirkliche Ungleichheit eingebaut wie der Kolben in den Motor: die soziale Ungleichheit. Diese soziale Ungleichheit ist gar kein Verstoss gegen die formale Gleichheit vor dem Gesetz, sondern ihr Hauptinhalt. Das Allerheiligste der bürgerlichen Freiheit ist das Privateigentum - genauer gesagt, das Privateigentum, auf das es ankommt, das das gesamte gesellschaftliche Leben bestimmt: das Privateigentum an den grossen Produktionsmitteln. Und der Staat ist die Institution, die eben diese Ordnung garantiert und sie mit rechtlichen und notfalls gewalttätigen Mitteln verteidigt.

Die Fiktion von der Gleichheit - selbst die Rechtsgleichheit gibt es in Wirklichkeit nicht, weil die Realisierug von Rechtsansprüchen von der Dicke des Geldbeutels abhängt - in der bürgerlichen Gesellschaft zu überwinden und sich auf den Boden der Realität zu stellen hat zur Bedingung, den abstrakten, idealen Bürger aufzulösen in seine wirklichen Daseinsformen. Neben viel Unübersichtlichem und Widersprüchlichen dazwischen gibt es diese zwei Haupttypen: erstens diejenigen, die Produktionsmittel besitzen und sich menschliche Arbeitskraft kaufen können; zweitens diejenigen, die keine Produktionsmittel besitzen und daher, um zu überleben, ihre Arbeitskraft einem andern verkaufen müssen. Kapital und Lohnarbeit.

 

Der Titel Bürger, Staatsbürger ist eine ziemlich leere Hülle. Die nackte soziale Daseinsweise ist die des Kapitalisten und des Lohnabhängigen, nebst, wie gesagt, einigem dazwischen. Das "Wir", der "Staat, der wir alle sind" muss unter den bürgerlichen Verhältnissen eine Fiktion bleiben, weil die Interessen der Kapitalisten und der Lohnabhängigen einander nicht zu einem "grösseren Ganzen" ergänzen, sondern sich wechselseitig ausschliessen. Des einen höherer Profit ist des anderen minderer Lohn und umgekehrt.

 

Ein paar Jahrzehnte "Wirtschaftswunder", eine kleine Sonderperiode in der Elendsgeschichte des Kapitalismus, sind längst vorbei. Die Hoffnungen auf den "Wohlstand für alle" zerbröseln. Der Staat rettet die Banken und muss zu diesem Zweck die Kleinbürger und Proleten schlechter stellen oder ruinieren.

 

Mit einiger Zeitverzögerung und den Qualen des Abschiednehmens von gewohnten und leuibgewordenen Illusionen schlägt die Realität auch in die Köpfe durch:

 

"Nur 15% der Deutschen meinen, die Politiker würden ihren Aufgaben gerecht und bei den "Wirtschaftslenkern" sind es 26%. Doch zu einem Desaster wurde das Ganze bei der Frage, ob sich das Wirtschaftssystem Kapitalismus (das natürlich nicht so genannt wird) bewährt habe. Vor 16 Jahren noch sagten da 73% "ja", doch dann begann diese Zustimmung Jahr für Jahr zu bröckeln. Im April 2010 war die Zustimmung auf 54 % gesunken. Dann aber, in den letzten Monaten, brachen die Umfragewerte regelrecht weg: Nur 6 Monate später finden nur noch 48%, der Kapitalismus habe sich bewährt und damit spricht sich zum ersten Mal eine Mehrheit der Bevölkerung gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem aus. Das war nicht zu erwarten, denn nach dem Fall der Mauer wurden die Deutschen so perfekt auf Kapitalismus eingestimmt, dass es schien, nie wieder würde der Gedanke auftauchen, dies System sei nicht das einzig Mögliche. Doch die Wirklichkeit des Systems ist eben etwas anderes als die Propaganda. Nun haben alle erlebt, wie die Krise ausbrach und niemand fand es für nötig, uns zu erklären, wie das mit den Lobpreisungen des Kapitalismus in Übereinstimmung zu bringen ist.


Wir erlebten, wie plötzlich Hunderte von Milliarden für Banken zur Verfügung standen, während noch Tage vorher einige Millionen (ein Hunderttausendstel davon) für Erziehung oder für Kindertagesstätten verneint wurden, weil "das Geld einfach nicht da" sei. Wir erlebten, wie unsere Einkommen systematisch nach unten gedrückt wurden mit Zeitarbeit, mit Teilzeitstellen, mit Fremdfirmen, mit Hartz IV, mit Ein-Euro-Jobs, mit Tarifflucht, mit Niedrigstlöhnen usw. Heute sind die Lohnstückkosten in Deutschland bei weitem die niedrigsten unter den großen Industrieländern. Gleichzeitig sahen wir die Einkommen aus Vermögen in Deutschland ins Blaue des Himmels steigen. Von da aus wurden die Milliardenmengen von Dollar, Euro und Yen im großen Kasino der Aktien, Rohstoffe, Währungen und "Derivate" verzockt und wir haben nun die Zeche zu zahlen.


Wer jetzt noch nicht gemerkt hat, der Kapitalismus ist nicht "unser" System, der sitzt immer noch der Gehirnwäsche von Fernsehen, Zeitungen und Magazinen auf. Und viele Menschen begnügen sich nicht mehr damit, das bestehende für schlecht zu erklären, sie suchen auch nach Alternativen. Und da kommt dann immer wieder der gute alte Karl Marx ins Blickfeld. Nicht umsonst hat er bei der großen Umfrage vor einiger Zeit nach dem "bedeutendsten Deutschen" den zweiten Platz gemacht. Wer weiss, demnächst steht er auf dem ersten."

 

So ist das, Stefan Sasse. "Es rettet uns kein höh´res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun/ Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun."

 

Vertrauen ? - In uns selbst ! ("uns" - die Lohnabhängigen. Den anderen mangelt es übrigens gar nicht daran. Sie vertrauen schon in sich selbst.)

 

Den Einflüsterungen widerstehen ? - Ja. Denen in ein fiktives Gemeinwohl.

 

Eine starke Rolle des Staates ? - Nun ja, wir werden noch eine Weile einen brauchen; einen anderen, einen, der unserer ist.

 

"Wir müssen diesen Staat konstutuieren, wir allein ?" - Genau. Einen der Lohnabhängigen, ohne (Gross-)Kapitalisten. Das heisst: den jetzigen überwinden.

 

(Um Missverständnissen vorzubeugen: Immer und überall, wo es darum geht, bestehende Freiheiten und Rechte zu verteidigen gegen staatliche Diktatur und Willkür, stehen die marxistischen Realisten und die demokratischen Illusionisten auf der selben Seite der Barrikade. Hoffentlich. Es nicht zu tun, haben unsere Vorfahren teuer bezahlt.)

Veröffentlicht in Westliche Werte Boerse

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Kommentiere diesen Post
A
<br /> <br /> Im Nachhinein betrachtet wurden die Westdeutschen bis in die 70er Jahre hinein mit Lohnsteigerungen korrumpiert und entpolitisiert. Vond da an gings bergab. nach dem Ende der theoretisch<br /> möglichen Alternative brauchte das Kapital sich keine Hemmungen mehr aufzuerlegen. Unter den Folgen leiden wir bis heute. Aufstand? Resignation! Brot und Spiele! Vollverblödung! Merkel ist die<br /> Stefan Rab der Politik...<br /> <br /> <br /> <br />
Antworten
S
<br /> <br /> Die Ursachen der heutigen politischen Windstelle seh ich auch so. Damals hatte sie aber einen materiellen Grund, wenn es auch kurzsichtig war, sich davon einlullen zu lassen. Seit zwanziog Jahren<br /> ist dieser materielle Grund dabei schwächer zu werden. Malsehen, wie lang er noch trägt.<br /> <br /> <br /> <br />