Stalinismus - ein antikommunistischer Kampfbegriff. Erklären anstatt verteufeln oder verharmlosen

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Fast sechzig Jahre nach dem Tod Stalins scheiden sich an diesem Mann noch die Geister. Der Stalinismus-Vorwurf zielt darauf, den Sozialismus/Kommunsmus als solchen als erledigt zu behandeln. - Eine Idde, die in der Praxis den "Stalinismus" hervor gebracht hat, sei damit entgültig und für immer diskreditiert. Dass die Bourgeois-Ideologen sich den Terror und die Verbrechen, die in der Regierungszeit Stalins massenhaft vorgekommen sind, zunutze machen, kann man ihnen nicht einmal verübeln. Die Bourgeoisie betrachtet mit Recht die Kommunisten als ihre Todfeinde und nutzt eben alle Möglichkeiten, diesen Feind ideell - und immer wieder auch physisch - auszumerzen.

 

Die "Stalinismus-Debatte" gibt es aber auch unter den Kommunisten selbst und in der übrigen Linken, in der die "Stalin-Frage" oft als Spaltungslinie und als Ausweis dafür dient, dass man selbst, "bei aller Radikalität", "doch nicht so schlimm sei wie die da", so dass die Abgrenzung zum Ausweis der eigenen politischen Harmlosigkeit wird. Unter diesem Druck und dem der Bourgeois-Hetze, hat die historische Aufarbeitung der Zeit Stalins auch unter den Kommunisten einen eigenartigen Verlauf genommen. Während "Hardliner" dazu neigen, noch jedes Verbrechen als "irgendwie sozialistische Notwendigkeit" zu verklären, neigen andere dazu, diesem Druck mehr oder weniger nachzugeben. Beides wird der Sache nicht gerecht. So wenig, wie die Terrorphase der französischen bürgerlichen Revolution mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung gleichgesetzt werden kann (auch deswegen,  weil noch weit Schlimmeres, wie der Faschismus und andere Exzesse dieser Ordnung, folgten), können Ungerechtigkeit, Willkür und Terror in der jungen Sowjetunion mit der  sozialistischen Revolution und mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung gleichgesetzt werden.

 

Notwendig - nicht nur für die Kommunisten, sondern für alle, die ein realistisches, möglichst alle Aspekte einbeziehendes Bild gewinnen wollen - ist die zunächst nüchterne Aneignung der relevanten Tatsachen. Erst auf dieser Grundlage können Urteile über die Geschichte gefällt werden und kann aus ihr gelernt werden - in den Grenzen, in denen in einer chaotischen, in ihren Wirkungszwängen vom "Menschlichen" völlig absehenden Gesellschaftsordnung wie der bürgerlich-kapitalistischen überhaupt schon aus der Geschichte in dem Sinn gelernt werden kann, dass begangene Fehler nie wieder vorkommen. Die Grenze dieser Lernfähigkeit heute ist ja nicht die Fähigkeit der Menschen dazu, sondern liegt in der Tatsache, dass die Logik der Kapitalverwertung, d.h. die Logik der Ausbeutung, die "hinter dem Rücken" der Agierende wirkt,die einfache praktische Anwendung und Durchsetzung menschlicher Vernunftfähigkeit beständig verhindern - "Sachzwänge". Der Zivilisationsprung zu einer vernünftigen, menschengemässen Gesellschaft, in der diejenigen, die arbeiten, selber entscheiden, was und wie gearbeitet wird und wie die Resultate menschlicher Arbeit weiter verwendet werden, liegt jenseits des Kapitalismus.

 

Was in der Zeit Stalins geschehen ist, hat natürlich auch eine moralische Seite, und für die Kommunisten erwächst daraus die Verantwortung, auch diesen Aspekt zu "verarbeiten" und, soweit möglich, daraus Schlussfolgerungen für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Aber ohne die umfassende Berücksichtigung aller allgemein- und konkret-historischen Bedingungen dieser Zeit, des wirklichen Handlungsspielraums der Akteure und einen genauen Blick darauf, wer diese Akteure waren und von welchen Interessen geleitet sie handelten, können auch für den Aspekt der Moral keine glaubwürdigen Schlussfolgerungen gezogen werden.

 

Prof. Hans Heinz Holz hat zur "Stalin-Frage" eine Sicht, der ich mich vollständig anschliesse. Wie er die Sache sieht, geht aus einem Text hervor, der heute in junge welt erschienen ist. Ich spiegele ihn hier via kominform.at :

 

Erklären, nicht verharmlosen
Vorabdruck. Theorie als materielle Gewalt. Die Klassiker der III. Internationale

Von Hans Heinz Holz

In diesen Tagen erscheint im Berliner Aurora-Verlag der zweite Band von Hans Heinz Holz’ auf drei Bände angelegter Studie »Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie«. Nachdem der erste Band die Aneignung und Umkehrung des Hegelschen Systems durch Marx und Engels sowie ihre Grundlegung der materialistischen Dialektik zum Thema hatte, befaßt sich Holz nun mit Lenin, Antonio Gramsci, Stalin und Mao Tse Tung. Wir veröffentlichen einen Auszug aus dem Kapitel zu Stalin.


Weder verteufeln noch anbeten: Stalins Handeln kann nur aus den Widersprüchen des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion verstanden werden (mit dem Schriftsteller Maxim Gorki, 1931) Foto: jW-Archiv
Heute mehr denn je ist »Stalinismus« ein antikommunistischer Kampfbegriff, gerade dann, wenn er unter dem Vorwand demokratischer Erneuerung dazu gebraucht wird, ein konsequent kommunistisches Sozialismusverständnis zu bekämpfen.

Dieser Begriff eignet sich so gut zu diesem Gebrauch, weil durch die Verbindung des Eigennamens mit einer Kollektivendung möglich wird, damit beliebig eine Phase im Aufbau des Sozialismus, eine Systemgestalt der kommunistischen Gesellschaft, eine theoretische Sonderform des Marxismus oder eine persönliche Art staatlicher Herrschaftsausübung zu benennen und so verschiedene Aspekte des Kommunismus zwischen der Oktoberrevolution und dem Zusammenbruch der sozialistischen Gesellschaften Osteuropas unterschiedslos diffamierend zusammenzufassen. Das Wort ist schon deshalb mißleitend, weil darunter auch eine Reihe von Erscheinungen der Organisation des Gesellschaftsprozesses und der kommunistischen Weltbewegung subsumiert werden, die sich erst nach der sogenannten Entstalinisierung des XX. Parteitages ausbildeten.

Die Personalisierung von systematischen Problemen und die Projektion auf eine »Unheilsfigur« lassen sich dann innerkommunistisch auch als Entlastungsstrategie funktionalisieren, um spätere Fehlentwicklungen einer früheren Ursache aufzubürden. Diese Entlastungsstrategie verhindert ein historisch-materialistisches Verständnis der Geschichte des Kommunismus und arbeitet in der Konsequenz (sicher bei vielen Genossen ganz gegen ihre Absicht und Erwartung) der Propaganda des Gegners in die Hände.

Die Begriffsverschiebung von »Stalinismus« zu »Stalin-Zeit« bringt keinen Erkenntnisfortschritt. Die »Stalin-Zeit« ist die Zeit ungeheurer Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in einem ökonomisch, technisch und bildungsmäßig wenig entwickelten Land von riesigen Ausmaßen. Diese Erfolge beinhalten die beiden Hauptaspekte der Industrialisierung samt infrastruktureller Erschließung und der Herstellung nicht-kapitalistischer Eigentumsverhältnisse. Sie schließen ein überdurchschnittliches Wachstum des Lebensstandards der breiten Massen ein. Daß diese Erfolge seit der Gründung der Sowjetunion gegen die aggressive Politik militärischer, wirtschaftlicher und ideologischer Interventionen der kapitalistischen Mächte errungen werden mußten, gehört zur Gesamtsituation und macht die Leistung noch größer und schwerer.

Die »Stalin-Zeit« ist weiterhin die Zeit einer bewundernswerten Volksbildungs- und Kulturtätigkeit, der Alphabetisierung einer mehrheitlich noch analphabetischen Bevölkerung, der Förderung nationaler Kulturen im Rahmen des föderativen Unionsverbands, der Erarbeitung einer Verfassung, die auch nach den Maßstäben bürgerlicher Verfassungstheorie demokratisch genannt werden darf (womit noch nichts über die Anwendung, wohl aber etwas über die gewollte Entwicklungsrichtung gesagt ist). Die Arbeiterklasse der ganzen Welt sah in dieser Zeit in der Sowjetunion ihre Heimat – doch wohl nicht als Folge eines fatalen Mißverständnisses!

Die »Stalin-Zeit« ist nicht zuletzt die Zeit des heroischen Kampfes des gesamten Sowjetvolkes– nicht nur seiner kommunistischen Teile – gegen den Faschismus, eines Kampfes auch um das in den wenig mehr als 20 Jahren zwischen der Oktoberrevolution und der deutschen Invasion Geleistete und Errungene.

Das alles muß bei der Beurteilung der Epoche festgehalten werden, bevor wir zur Feststellung der Unrechtshandlungen, Verbrechen und Fehlentwicklungen und zur Erforschung ihrer Ursachen übergehen; sonst wird das Gesamtbild verzerrt, sonst wird verdeckt, in welcher Tradition ihrer Geschichte Kommunisten stehen. Nur unter Voraussetzung dieser Leistungen können wir uns aufrecht und selbstkritisch statt verschämt und wehleidig mit den schrecklichen Verfehlungen auseinandersetzen, die gleichzeitig in dieser Epoche geschehen sind.

Befreiung und Gewalt

Wer nach Erklärungen fragt, wird schnell verdächtigt, er wolle verharmlosen, beschönigen, vertuschen. Es geht jedoch hier darum, die Auswirkungen von Widersprüchen zu verstehen, um daraus Lehren zu ziehen. Das heißt nicht, diese Auswirkungen zu billigen. Die Erklärung historischer Vorgänge und ihre moralische Beurteilung müssen auseinandergehalten werden. Moralisieren ist kein historisch-materialistisches Verhältnis zur Geschichte, obwohl Moral ein wichtiger, unverzichtbarer Faktor in historischen Situationen ist. Ich halte mit Willi Gerns und Robert Steigerwald fest: »Wir haben keine Probleme damit, wenn die Gewalt und der Terror der Konterrevolution mit revolutionärer Gewalt beantwortet werden. Das war in der großen Revolution unvermeidlich, wenn die Revolutionäre nicht vor dem Terror der Konterrevolution kapitulieren wollten.«

Die Geschichte ist voll von Beispielen des gewaltsamen Klassenkampfs mit unzähligen Opfern auf beiden Seiten. Selbstverständlich ist das schrecklich, und alle Kraft einer humanitären Politik muß darauf gerichtet werden, solche Ausbrüche von Gewalt zu verhindern oder zu begrenzen. Würden aber aus Friedfertigkeit und Moralitiät die Beherrschten darauf verzichten, ihre Emanzipation notfalls auch gewaltsam durchzusetzen, so blieben sie die wehrlosen Opfer der Gewalt der Herrschenden. Und Kurt Gossweiler hat recht, wenn er schreibt: »Es ist eine Tatsache, daß noch niemals eine unterdrückte Klasse das Joch der Unterdrückerklasse abgeworfen hat, ohne daß ihr revolutionärer Befreiungskampf und die Abwehr der konterrevolutionären Restaurationsversuche auch das Leben vieler Unschuldiger gekostet hat.«

Es geht bei dem »Stalinismus«-Vorwurf auch nicht eigentlich um die temporäre und begrenzte Anwendung von Gewalt, sondern um die Frage, ob zu dem Zeitpunkt der Ausübung des Terrors durch die staatlichen Organe noch eine revolutionär-konterrevolutionäre Lage bestand und was zu dem exzessiven Ausmaß des Terrors geführt hat. In Fortsetzung der ideologischen Linie, wie sie der XX. Parteitag (der KPdSU vom 14. bis 26.2.1956 – d. Red.) eingeschlagen hat, wird von den Kritikern der sogenannten Stalin-Zeit unterstellt, Stalins These, nach dem Sieg des Sozialismus in einem Land habe sich der Klassenkampf verschärft, sei falsch gewesen. Diese Unterstellung widerspricht aber allen historischen Tatsachen und der Logik der Sache.

Man überlege noch einmal: Für den Kapitalismus entsteht mit dem Beginn des Aufbaus des Sozialismus auf einem Sechstel der Erde zum ersten Mal ein äußerer, staatlich organisierter Gegner, während gleichzeitig in seinem eigenen Bereich die sozialen Widersprüche wachsen und der Klassenkampf härter wird; die Arbeiterbewegung im Inneren und der äußere Gegner Sowjet­union sind der Sache nach natürliche Verbündete. Unter diesen gegebenen Bedingungen war es die sich quasi von selbst ergebende Strategie der kapitalistischen Staaten, die Sowjetunion einzuschnüren, ihren Machtzuwachs zu verhindern und wenn möglich die Entwicklung des Sozialismus zu Fall zu bringen. Das läßt sich als Generallinie in der Außen- und Militärpolitik der kapitalistischen Staaten faktisch und dokumentarisch aufzeigen. Das Ziel, den Sozialismus zu Fall zu bringen, schloß auch die Zersetzung der kommunistischen Partei im Innern der SU, ihre Lähmung durch innerparteiliche Richtungskämpfe, die Unterstützung nicht- und antisozialistischer Kräfte und Verhaltensweisen als Teil der Strategie mit ein.

Nun waren mit der Oktoberrevolution die Klassen in Sowjetrußland (und später der UdSSR) nicht »abgeschafft«. Es gab sie unterhalb der sich verändernden Eigentumsverhältnisse noch als soziologisch definierbare Schichten, die in vielerlei Zusammenhängen (z. B. Familie, Kirche, Gemeinschaftsformen aller Art) erhalten waren, ihre Lebensweise, Erwartungen, Werteinstellungen usw. bewahrten und an ihre Kinder weitergaben und so einen (oft unausgesprochenen) gesellschaftlichen und ideologischen Gegensatz zu der im Aufbau befindlichen neuen Formation bildeten. Diese Schichten mußten, zum Teil (doch nicht nur) selbst gegen ihren bewußten, durch nationale Loyalität bestimmten Willen, Träger von Zersetzungserscheinungen im sozialistischen Aufbau sein, und Angehörige dieser Schichten konnten sich dafür auch instrumentalisieren lassen.

Der Klassenkampf von außen und im Inneren dauerte also an, und er nahm durch die äußeren Pressionen und Interventionsdrohungen eine akut bedrohliche Wendung (wie auch in der Französischen Revolution die »Terreur« und die Invasion wie kommunizierende Röhren zusammenhingen). Im tatsächlichen Verlauf dieser Auseinandersetzungen um Prinzipien und Strategien gab es mancherlei Schwankungen und Frontenwechsel, weil sowohl in individuellen als auch in Gruppeninteressen sich je verschiedene Nahziele durchsetzten und durchkreuzten. Bei zunehmender äußerer Gefahr (Stärkung des Faschismus, Antikominternpakt, Franco-Putsch in Spanien, Japans Überfall auf China) erzeugten diese inneren Kontroversen das Risiko einer entscheidenden Schwächung oder gar des Zusammenbruchs des jungen Sozialismus.

Verschärfter Klassenkampf

Die Einschätzung, der Klassenkampf habe sich nach dem Sieg der Oktoberrevolution sogar noch verschärft, kann unter diesen Umständen nicht als abwegig gelten. Die Konsequenz aus dieser Einschätzung mußte sein, fraktionelle Richtungskämpfe in der Partei zu überwinden oder zu unterbinden und notfalls zu eliminieren und die materielle Basis für nicht-sozialistisches Bewußtsein in der Bevölkerung durch eine Beschleunigung der Umwandlung von Eigentums- und Produktionsverhältnissen zu beseitigen. Daß dieses Programm nicht ohne repressive Gewalt durchzuführen war, leuchtet ein.

Erst an dieser Stelle entsteht die Frage nach der Verletzung sozialistischer Normen. Es besteht kein Zweifel, daß in übergroßer Zahl nicht nur aktive Gegner des neuen Staats, sondern Unschuldige, darunter sogar viele treue Genossen, Opfer der Verfolgung wurden. Daß es so kam, ist aus dem Zustand Rußlands, als es durch die Oktoberrevolution zum Sowjetstaat wurde, leicht herzuleiten. Rechtsstaatliche Traditionen, wie sie sich in Westeuropa (seit dem Römischen Recht) in zwei Jahrtausenden allmählich (und auch immer wieder mit größeren Rückschlägen) herausgebildet hatten, gab es nicht. Vielmehr bestand gerade gegenüber dem notwendigen Formalismus einer Rechtsordnung, die bisher immer nur Unterdrückungsordnung gewesen war, tiefes Mißtrauen. Alte Gewohnheiten des zaristischen Obrigkeitsstaats, der schon über eine wohlorganisierte und ausgebreitete politische Polizei verfügt hatte, setzten sich fort. Mit dem raschen Anwachsen der KPdSU drangen in die Partei opportunistische und karrieristische Elemente ein, die gerade in der Veränderung und Ausschaltung alter revolutionärer Kader die Chance für ihren eigenen Aufstieg sahen. Sie nutzten die objektive Situation äußerer und innerer Bedrohung, um mittels der Erzeugung von Mißtrauen unkontrollierte Machtstrukturen zu rechtfertigen und sich ihrer zu bemächtigen. In einer solchen Atmosphäre gedeiht Denunziantenum.

Das alles hat natürlich mit Sozialismus nichts zu tun, sondern ist ein gesellschaftlicher Vorgang auf der Grundlage spezieller russischer Ausgangsverhältnisse. Die Parteiorganisation, aus kleinen Anfängen in dem riesigen Land relativ schnell und mit unzureichend geschulten Kräften aufgebaut, war nicht stark genug, diese Entwicklung unter Kontrolle zu halten, sie wurde von ihr mitgerissen. Daß es tatsächlich Verschwörungen gab (mehr, als viele heute zuzugestehen bereit sind), verstärkte diese Tendenz. (Und geben wir uns keinen Illusionen hin: Wo auch immer auf der Basis eines wenig entwickelten Landes der Sozialismus aufgebaut würde, entstünde die gleiche Gefahr von Fehlentwicklungen. Gerade darum ist es so wichtig, Ursachen zu erforschen, statt einfach Schuldzuweisungen vorzunehmen.)

Wie unter den Bedingungen der äußeren Bedrohung und des inneren Klassenkampfs, der ökonomisch-technischen Unterentwicklung, der Ausdehnung und des Entwicklungsgefälles des riesigen Landes, des Bildungsrückstands, des Fehlens bürgerlich-demokratischer und des Fortdauerns autoritärer Denkweisen schwerwiegende Fehlentwicklungen beim Aufbau des Sozialismus sich durchsetzten, habe ich im IV.Kapitel meines Buches »Niederlage und Zukunft des Sozialismus« kurz erörtert: Nichteinhaltung Leninscher Parteinormen, Bürokratisierung des Partei- und Staatsapparates, Institutionalisierung repressiver Herrschaftsformen und – bedeutsam für das Versagen des Prinzips der Selbstkritik – Stillstand und darauf folgend Verfall der Theorie. Der sozialistische Impuls kam auf der Ebene der Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens nicht zur Entfaltung. Ich möchte darum auch nicht von »Deformation des Sozialismus« sprechen, denn es gab noch gar keinen verwirklichten Sozialismus, der hätte deformiert werden können; sondern von inneren Widersprüchen und Fehlentwicklungen beim Versuch des Aufbaus des Sozialismus. In der Tat unternahm die Parteileitung viele Anläufe, dieser Fehlentwicklung Einhalt zu gebieten (z.B. die mehrmals versuchte Trennung von Partei- und Staatsfunktionen, für deren Durchführung es einfach an qualifizierten Kadern mangelte, so daß sich schließlich doch eine Art Personalunion in den Funktionen einstellte). So scheiterte sie an der Unreife und Schwerfälligkeit des Apparats und auch der objektiven Unmöglichkeit, Programme einzulösen, für die die materiellen Voraussetzungen nicht bestanden.

Der Ausbruch des Krieges, die Ausnahmesituation der vier grauenvollen Jahre der Zerstörung des Landes und der ungeheuren Menschenverluste, die Jahre des »Von-vorn-wiederbeginnnen-Müssens« nach 1945 bedeuteten ohnehin eine Unterbrechung im strukturellen Sozialisierungsprozeß. Und die übermenschliche Verteidigungsleistung der Völker der Sowjetunion kam auch durch Mobilisierung der nationalen Ideologie, vor allem der russischen, zustande (»Großer Vaterländischer Krieg«), die in der Gleichsetzung vaterländischer und kommunistischer Gesinnung dem Internationalismus der kommunistischen Bewegung schadete.

Meiner Einschätzung nach versuchte Stalin in seinen letzten Lebensjahren– vor allem mit seinen, als Folge des XX. Parteitags nicht mehr rezipierten, Spätschriften über Ökonomie und theoretische Grundlagen am Beispiel der Sprachwissenschaften– eine Korrektur der genannten Fehlentwicklungen einzuleiten; vorsichtig und mit dem Bestreben, eine solche Korrektur nicht zur Erschütterung der durch den Krieg geschwächten und schon wieder von der aggressiv antisowjetischen Politik der USA herausgeforderten Sowjetunion werden zu lassen. Ob diese Einschätzung richtig ist, kann nur eine nicht von Emotionen verzerrte Analyse der Stalinschen Spätzeit (die bisher bei den Erörterungen des Problems fast ganz unbeachtet blieb) zeigen. Die »Stalinismus«-Diskussionen haben für eine solche emotionsfreie Analyse wenig Ansatzpunkte geboten.

Deformation der Theorie?

Mit allem Nachdruck möchte ich jedoch der von Gerns und Steigerwald vertretenen Auffassung von der »Deformation der Theorie« durch Stalin entgegentreten. Bezeichnenderweise stützen Gerns und Steigerwald sich dabei auf Bewertungen des (auch von mir hoch geschätzten) nicht-kommunistischen Soziologen Werner Hofmann, ohne allerdings die von Hofmann zuvor dargelegte Ursachenanalyse mit heranzuziehen. Dadurch ergibt sich ein schiefes Bild – und noch eines aus zweiter Hand.

Stalin hat sich in seinen theoretischen Arbeiten– vor allem mit dem Kapitel über historischen und dialektischen Materialismus im Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU – vor allem an die breiten Massen gewandt, die durch Bildungsarbeit überhaupt erstmals erfaßt wurden. Er hat mit einer bewundernswerten didaktischen Fähigkeit die schwierigen Fragen einer dialektischen Philosophie und Gesellschaftstheorie in einer auch für wissenschaftlich ganz unerfahrene Leser verständlichen Form dargestellt. Daß dabei vergröbernde Vereinfachungen vorgenommen werden mußten, ist jedem klar, der mit Lehrbüchern gearbeitet oder gar solche verfaßt hat. Zudem muß die dialektische Bewegungsform des Denkens in einer systematischen Zusammenfassung erstarren. Ich habe an anderer Stelle gezeigt1, daß die Stalinsche Systematisierung der Grundlagen marxistischer Philosophie sich eng an Leninsche Vorbilder anschließt, daß insbesondere die 16 Punkte der Dialektik, in denen Lenin seine Hegel-Lektüre resümiert, 2 mit den Stalinschen Hauptpunkten genau übereinstimmen. Anfang der dreißiger Jahre, vor Stalins Schrift, als in der kommunistischen Weltbewegung allenthalben das Bedürfnis nach lehrgerecht aufgebauten Grundrissen des dialektischen und historischen Materialismus bestand, haben bedeutende marxistische Philosophen in Westeuropa dieselben (und fast bis in den Wortlaut hinein gleichen) Systemschemata ausgearbeitet – ich nenne nur Max Raphael (1934) und Georges Politzer (1935).

Die vorläufige Analyse der theorierelevanten Stalinschen Schriften zeigte durchgängig das gleiche Bild: die Fähigkeit, schwierige komplexe Sachverhalte auf die hauptsächlichen Kernstrukturen zu reduzieren und durchsichtig zu machen; Zusammenhänge sehen zu lassen, wo der Stoff unübersichtlich ist; den eigenen Standpunkt gegenüber anderen Auffassungen klar herauszuarbeiten.

Es ist sicher nicht diesen Schriften anzulasten, sondern eher ein bildungs- und wissenssoziologisches Problem (und als solches auch von Werner Hofmann behandelt worden), daß die Stalinschen (und übrigens auch die Leninschen) Grundrißentwürfe und »Elementaria« von der sowjetischen Wissenschaft nicht etwa als eine Grundlage für Diskussion und weiterführende Forschungen genommen, sondern als dogmatische Grenze ihrer theoretischen Arbeiten gesetzt wurden. Und es muß betont werden, daß diese Dogmatisierung und Unbeweglichkeit in Grundfragen (bei gleichzeitigem politischem Opportunismus) überhaupt erst richtig in der Zeit nach Stalin zum dominanten Charakteristikum der Sowjetwissenschaft wurde. Die ersten Jahrgänge der Zeitschrift Sowjetwissenschaft zwischen 1948 und 1952 zeigen eine noch viel offenere und diskussionsfreudigere Wissenschaft am Werk.

Sicher hängt dieser Theorieverfall mit der Bürokratisierung von Partei- und Staatsapparat zusammen, hat aber auch seine Wurzeln darin, daß es im vorrevolutionären Rußland nur eine sehr schmale Basis von Wissenschaft und Wissenschaftstradition gab, die noch durch die Abwanderung bürgerlicher Wissenschaftler nach der Revolution weiter geschwächt und erst nach und nach durch neue heranwachsende Bildungsschichten aufgefüllt wurde. Die Entwicklung einer wissenschaftlichen Kultur brauchte Generationen – und eine so lange Zeit hatte die Sowjetunion nicht. Dogmatische Kinderkrankheiten in der Frühphase einer Weltanschauung – man denke nur an die Dogmengeschichte des Christentums – sind in der Geschichte nicht ungewöhnlich. In langfristigen geschichtlichen Verläufen werden sie in der Regel überwunden, wenn die Gesellschaft im ganzen sich stabilisiert, ihrer Formationstypik entsprechend entwickelt und differenziert.

Der Entwicklungsbruch

Eine solche langfristige Entwicklung wurde durch den XX. Parteitag unterbrochen. Die Kritik an den Fehlern, Unrechtshandlungen und Verbrechen der vorangegangenen Jahre wurde nicht als Ergebnis einer historisch-materialistischen Analyse der objektiven Widersprüche beim Aufbau des Sozialismus in einem (wenig entwickelten) Lande und ihrer subjektiven Reflexe vorgetragen, sondern als eine moralisierende Anklage, die sich letzten Endes gegen eine einzige Person, den Übeltäter Stalin, richtet, dessen Mitarbeiter die Kritiker gewesen waren, die so (nach alter biblischer Manier) ihre eigene Mitverantwortung einem Sündenbock aufladen konnten. Seit dem XX. Parteitag hat die innerkommunistische »Stalinismus«-Kritik immer auch den Charakter einer Entschuldigung eigenen Versagens; wenn 36 Jahre nach dem Tode Stalins 1989 und folgend immer noch alle Fehlentwicklungen in der UdSSR dem »Stalinismus« zur Last gelegt werden, obwohl doch wahrlich Zeit genug und Möglichkeiten zur Erneuerung des revolutionären Geistes der Partei vorhanden waren, dann müssen die Kritiker doch besser nach den Fehlern gefragt werden, die sie selber in diesen 36 Jahren gemacht haben.

Zunehmender Opportunismus

Einer ausführlicheren Untersuchung muß vorbehalten bleiben, die entscheidenden Punkte aufzuzeigen, in denen die Politik des XX. Parteitags von einem leninistischen Kurs abwich.3 Jedenfalls halte ich die Einschätzung für richtig, daß mit Chruschtschow innerhalb der KPdSU eine opportunistische (und das heißt: revisionistische) Linie die Oberhand gewann. Opportunismus nenne ich eine Politik, die sich um kurzfristiger wirtschaftlicher Vorteile willen in Abhängigkeit von kapitalistischen Zulieferländern begibt; die »um des lieben Friedens willen« bereit ist, systemgefährdende Konzessionen an den Gegner zu machen; die den Integrationsprozeß des sozialistischen Lagers einseitig den besonderen Interessen der Vormacht unterordnet; die eine allmähliche Revision der Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus durch Eindringen systemfremder theoretischer Konzepte unkritisch hinnimmt und das kritische Potential des Marxismus zu reiner Apologetik verkommen läßt; kurz, alle jene Erscheinungen, die ein Ermatten des klassenkämpferischen Elans und ein Vordringen reformistischer Auffassungen und Strategien zur Folge haben.

Diese Einschätzung des tendenziellen und allmählich zunehmenden Opportunismus in der sowjetischen Politik seit 1956 muß durch Untersuchung der Tatsachen und ihre perspektivische Bewertung geprüft werden. Sie kann nicht einfach als »stalinistisch« diffamiert werden. (…)

Es ist nötig, daß wir von dem Klischee »Stalinimus – Antistalinimus« wegkommen. Wir müssen unsere reiche und widersprüchliche Geschichte ohne solche Vorurteile erforschen. Und wir dürfen nicht vergessen, daß wir die Geschichte erforschen, um die Zukunft besser zu machen, um Fehler zu vermeiden, deren Muster wir jetzt kennen, um die Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft der Ausbeutung und Unterdrückung zu Formen der Befreiung der Menschheit zu machen.

Anmerkungen

1 Dialektik als offenes System, Pahl Rugenstein Verlag, Köln 1986, S.16–26

2 LW 38, S.212–214

3 Hans Heinz Holz: »Niederlage und Zukunft des Sozialismus«, Neue Impluse Verlag, Essen 1992, S.102–104

Prof. Dr. Hans Heinz Holz ist Autor zahlreicher Publikationen zu marxistischer Philosophie, Kunsttheorie und Politik.

Die Algebra der Revolution - Die Klassiker der III. Internationale. (Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie Band 2)


Siehe auch:
Hans Heinz Holz: Die Algebra der Revolution - Von Hegel zu Marx. (Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie Band 1) Aurora Verlag, Berlin 2010, 320 Seiten, 24,95 Euro

 

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http://www.kominform.at/article.php/20110314001139548

 

 

 

 

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