VR China: Rote und schwarze Katzen
Übernommen von Theorie & Praxis - http://theoriepraxis.wordpress.com/2013/04/04/china-markt-statt-armut/ :
Die Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping unterzog China einem drastischen ökonomischen und sozialen Wandel. Das Ziel: die Sozialistische Harmonische Gesellschaft
Lediglich zwei Jahre nach dem Ende der Kulturrevolution in der Volksrepublik China 1976 wurde ein Reformprozeß in Gang gesetzt, der eine Abkehr von bisherigen Prinzipien des sozialistischen Aufbaus bedeutete. 15 Jahre später, am 29.3.1993 erhielt die »Sozialistische Marktwirtschaft« Verfassungsrang. Eine vorläufige Bilanzierung 20 Jahre danach.
Die Sowjetunion baut den Sozialismus schon für so viele Jahre auf und ist immer noch nicht ganz im Klaren darüber, was er eigentlich ist. Vielleicht hatte Lenin eine gute Vorstellung davon, als er die Neue Ökonomische Politik einführte.«
Deng Xiaoping ist der Vater der chinesischen Reform- und Öffnungspolitik und somit auch der Sozialistischen Marktwirtschaft. Mit ihm setzte die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) 1978 einen Mann an ihre Spitze, dem während der Zeit der Kulturrevolution nachgesagt wurde, er folge dem Pfad des Kapitalismus. Die Entscheidung der KPCh für Deng Xiaoping war also eine klare Richtungsentscheidung: weg von der Betonung des Klassenkampfes, Schluß mit der kontinuierlichen Massenmobilisierung, Abschied von einer stark zentralisierten Planwirtschaft, von einer Lohnpolitik, die kaum Abstufungen kennt, und von Versuchen, eine Abkürzung auf dem Weg zum Kommunismus zu finden. Der durchaus pragmatische Ansatz von Deng Xiaoping verweist auf die Gründe, warum der sozialistische Weg in China überhaupt eingeschlagen wurde. Die Hauptaufgabe seiner Partei sah er in der Beseitigung der Rückständigkeit des Landes sowie in der Wahrung der Unabhängigkeit. Er knüpft dabei an Grundfragen an, wie sie bereits von Sun Yat-sen, dem Vordenker und Vorkämpfer des »modernen« Chinas, formuliert wurden.
Einige seiner Grundüberzeugungen, die er im Verlauf der Auseinandersetzung um die Reformpolitik der KPCh hat dokumentieren und veröffentlichen lassen, werden hier ausgeführt. Sie sind Teil des Bildungsprogramms der Parteischulen der KPCh und finden sich bis heute in Stellungnahmen von hochrangigen Führungskadern. Da es durchaus bemerkenswert ist, daß sich die KPCh zwei Jahre nach Ende der Kulturrevolution zu marktwirtschaftlichen Reformen durchringt, wird – wenn auch sehr allgemein gehalten – auf die Gründe einzugehen sein, welche Vorteile damals mit dieser Entscheidung verbunden wurden. Als Beispiel marxistischer Kritik an der Sozialistischen Marktwirtschaft wird ein Aufsatz von Martin Hart-Landsberg und Paul Burkett aus dem Jahre 2005 herangezogen, der eine vernichtende Zwischenbilanz der Reform- und Öffnungspolitik enthielt. Abschließend erfolgt eine Bewertung der aktuellen Wirtschaftspolitik, die sich die Sozialistische Harmonische Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat und auf die sich nach Hu Jintao und Wen Jiabao auch die neue Führungsgeneration unter Xi Jinping und Li Keqiang verpflichtet hat.
Grundlage der Auffassungen Deng Xiaopings ist die Notwendigkeit wirtschaftlichen Wachstums als materielle Voraussetzung für Entwicklung überhaupt. In einem Gespräch mit dem damaligen Präsidenten der Demokratischen Volksrepublik Korea, Kim Il Sung, im Jahr 1982 formuliert Deng: »Wenn ein rückständiges Land den Versuch unternimmt, den Sozialismus aufzubauen, dann ist es natürlich, daß die Produktivkräfte für eine lange Anfangsphase nicht auf dem Stand entwickelter kapitalistischer Länder sein werden und daß es nicht in der Lage sein wird, Armut vollständig zu beseitigen. Wir müssen dementsprechend alles daran setzen, die Produktivkräfte zu entwickeln und schrittweise Armut zu beseitigen, indem wir stetig den Lebensstandard des Volkes erhöhen.« Er erteilt also der Verteilungspolitik der vorangegangenen Jahre, die versuchte, Armut durch eine möglichst gleiche Verteilung zu bekämpfen, eine klare Absage.
Die schrittweise Einführung von Marktmechanismen bot für Deng einen Ausweg aus den Fehlentwicklungen und Problemen, die die Volksrepublik in den ersten 30 Jahren ihrer Existenz mit einer stark zentralisierten Planwirtschaft hatte. Zu diesen Fehlentwicklungen zählt er u.a. den Aufbau einer Schwerindustrie zu Lasten der Landwirtschaft und das aus allen sozialistischen Ländern bekannte Mißverhältnis zwischen garantierten Löhnen und einem unzureichenden Angebot an Waren. Der Markt hat letztendlich genau dieses Mißverhältnis zwischen Kaufkraft und Warenangebot beseitigt, sei es durch die allmähliche Reprivatisierung von Kosten, die zuvor vom Staat getragen oder subventioniert wurden, sei es durch Preissteigerungen. Dabei liegt der Reiz der Nutzung von Marktmechanismen für den sozialistischen Staat weniger darin begründet, daß der Markt eine grundsätzlich effektivere Form der Distribution von Waren darstellt (was er nicht ist), sondern daß er seine ausgleichende Funktion scheinbar selbständig vollzieht.
Der sowjetische Ökonom und zeitweilige hohe politische Funktionär, Jewgeni Alexejewitsch Preobraschenski, hatte einen solchen Gedanken 1926 im Rahmen der Auseinandersetzung um die Neue Ökonomische Politik in der jungen Sowjetunion formuliert. Er war der Auffassung, daß die kapitalistische Wirtschaft durch die blinde Wirkung des Wertgesetzes intelligenter und verläßlicher geregelt sei, als wenn diese Funktion Politikern und Professoren übertragen würde. Im Kapitalismus könnten entsprechend wirtschaftspolitische Fehler begangen werden, ohne daß die Akkumulation von Kapital davon betroffen sein müsse; in der sozialistischen Planwirtschaft aber seien wirtschaftspolitische Fehler schwer zu korrigieren. Entsprechend sei Planwirtschaft ungleich komplexer und aufwendiger für den Staat. Kurz gesagt: Mit der Verteilung über den Markt stiehlt sich der sozialistische Staat ein gutes Stück weit aus seiner Verantwortung.
Zu Beginn der Reform- und Öffnungspolitik ist die VR China ein Land mit bescheidenen Investitionsmitteln und einem riesigen Arbeitskräfteangebot, welches zu dieser Zeit vor allem in den landwirtschaftlichen Betrieben gebunden ist. Zwei grundsätzliche Entwicklungen wurden eingeleitet: erstens konnte Kapital freigesetzt werden, zweitens Arbeitskräfte. Die Freisetzung von Kapital wurde vor allem durch den Abbau von Subventionen und die Einführung eines Kreditwesens ermöglicht. Die freigewordenen staatlichen Mittel sind wesentlich für den Ausbau von Infrastruktur in den Sonderwirtschaftszonen verwendet worden, wo ausländische Unternehmen günstige Konditionen vorfinden. Gleichzeitig wird die lebenslange Bindung von Arbeitskräften an einen Betrieb bzw. eine Arbeitseinheit (danwei) aufgehoben. Arbeitskräfte sind zwar noch regional durch das Haushaltregistrierungssystem (hukou) gebunden, die städtischen Gebiete der Küstenregion üben aber bald eine starke Sogwirkung auf ländliche Arbeitskräfte aus. Durch die Einführung von Arbeitsverträgen können auch Staatsbetriebe ihre Lohnkosten nachhaltig senken und eine Differenzierung der Entlohnung nach Qualifikation und Leistung vornehmen.
Mit der Einführung der Marktwirtschaft und der Beschränkung staatlicher Wirtschaftspolitik auf die Formulierung makroökonomischer Ziele wurde Deng immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob denn die Aufgabe der Planwirtschaft nicht mit der Aufgabe des Sozialismus gleichzusetzen sei. Deng aber sah keinen fundamentalen Widerspruch zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft. Dengs vielzitierte Formulierung, es sei egal, ob die Katze schwarz oder weiß sei, Hauptsache sei, sie fange Mäuse, wird allgemein zwar so interpretiert, daß es für ihn unerheblich gewesen sei, ob sich wirtschaftliche Entwicklung des Landes unter sozialistischen oder kapitalistischen Vorzeichen vollzieht. Dies läßt sich jedoch nicht aus seinen Ausführungen ableiten. Für ihn ist der Sozialismus und die Herrschaft der Kommunistischen Partei Garant der nationalen Unabhängigkeit und somit Bedingung für die Modernisierung des Landes. Markt und Plan sieht Deng dagegen als zwei bloße Mittel zur Produktivkraftentwicklung: »Dienen sie dem Sozialismus, dann sind sie sozialistisch; dienen sie dem Kapitalismus, sind sie kapitalistisch« (Rede vor Mitgliedern des ZK der KPCh, 6.2.1987).
Nun bleibt die Frage unbeantwortet, was Deng Xiaoping denn nun unter »sozialistisch« versteht und was das sozialistische an der Sozialistischen Marktwirtschaft sein soll. Sozialismus hat seiner Auffassung nach zwei wesentliche Voraussetzungen: 1. die Vorherrschaft des Gemeineigentums in der Wirtschaft muß gewahrt sein und 2. es darf keine soziale Spaltung (in Klassen) geben: »Wann immer wir bei der Reformierung der Wirtschaft einen Schritt vorwärts tun, wird uns deutlich bewußt, daß es Änderungen in den politischen Strukturen geben muß. Tun wir dies nicht, dann werden wir die Erfolge der Wirtschaftsreformen nicht bewahren und nicht darauf aufbauen können, die Folge wäre die Beeinträchtigung der Produktivkraftentwicklung, und unser Drang zur Modernisierung wird behindert.«
Ein weiteres zentrales Element der Reform- und Öffnungspolitik ist die Reform des politischen Systems und der Regierungsorgane. Deng spricht sich für eine deutliche Verschlankung der Verwaltungsorgane aus, was angesichts der Tatsache, daß ein bedeutender Teil der Verwaltung mit Fragen der wirtschaftlichen Planung befaßt war, nötig erscheint. Ein weiteres Merkmal der Anpassung politischer Strukturen an die Erfordernisse der Reform- und Öffnungspolitik sieht Deng in der Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf die unteren Verwaltungsebenen sowie in der Stärkung der Basisorganisationen, die die Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungsprozessen ermöglichen soll. Den Parteiorganisationen kommt als Führungsorganen demnach die Aufgabe zu, sich um zentrale Probleme zu kümmern und Richtungsentscheidungen zu treffen, nicht aber in die Unternehmensleitung oder täglichen Regierungsgeschäfte einzugreifen.
Insgesamt plädiert Deng für eine erkennbare Trennung von Partei und Regierung, die traditionelle Doppelung der Partei- und Regierungsorgane auf den jeweiligen Verwaltungsebenen bei gleicher Zuständigkeit sei aufzuheben. Er hält die von der Sowjetunion übernommenen Strukturen für ungeeignet, sie weiterhin auf die chinesischen Verhältnisse anzuwenden. Die Führungsrolle der KPCh steht für ihn jedoch nicht zur Debatte. Das Modell einer parlamentarischen Demokratie habe China vor der sozialistischen Revolution ausprobiert, die Episode endete mit einem Zerfall Chinas im Innern und der Einflußnahme verschiedener Mächte von außen.
Betrachtet man die Entwicklung seit 1993, dann ist es angesichts der ungleichen Einkommensverteilung, der ungleichen Entwicklung von Stadt und Land sowie der regionalen Disparitäten in der wirtschaftlichen Entwicklung nicht selbstverständlich, daß die KPCh die Einheit der VR China in dieser Form sichern konnte. Die Wahrung der Einheit Chinas ist im Rahmen eines parlamentarischen Mehrparteiensystems kaum vorstellbar. Ihre Rolle als das verkörperte objektive Gesamtinteresse an Einheit und Modernisierung erinnert an die historische Rolle absoluter Herrscher beim Übergang zum Kapitalismus in Europa. »Das höchste Ziel der Kommunisten ist das Erreichen des Kommunismus, aber auf jeder historischen Stufe haben wir ein besonderes Ziel des Kampfes, welches die Interessen der überwältigen Mehrheit des Volkes im jeweiligen Zeitabschnitt verkörpert. Dies ist der Grund, warum wir in der Lage waren, die Massen zu einmütigem Handeln zu vereinen und zu mobilisieren.« (Deng Xiaoping)
Gut eine Dekade nach der Verkündung der Sozialistischen Marktwirtschaft veröffentlichten Hart-Landsberg und Burkett, Marxisten aus dem Umfeld der Zeitschrift Monthly Review, mit »China and Socialism: market reforms and class struggle« eine grundlegende Kritik des chinesischen Wachstumsmodells. Dabei stellen sie die Notwendigkeit der in der VR China erfolgten Abkehr von der Planwirtschaft in Zweifel. Ihrer Einschätzung nach handelt es sich bei der Sozialistischen Marktwirtschaft um ein weitgehendes Programm kapitalistischer Restauration, welches Privatwirtschaft fördert und Staatsbetriebe benachteiligt, auf ein exportgetriebenes Wachstum setzt und ausländische Betriebe privilegiert, während grundlegende sozialistische Errungenschaften wie Vollbeschäftigung, kostenfreier Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung einkassiert werden. Hart-Landsberg und Burkett sind der Auffassung, daß Fehler der Wirtschaftsentwicklung bis 1978 (Überzentralisierung, zu starke Kanalisierung von Ressourcen von der Landwirtschaft in die Schwerindustrie usw.) durch eine Korrektur der Wirtschaftspolitik unter Beibehaltung der Planwirtschaft korrigiert hätten können und müssen. Aber anstatt alte Probleme anzugehen, seien neue Probleme heraufbeschworen worden, darunter Arbeitslosigkeit und Inflation. Tatsächlich gab es Ende der 1980er Jahre einen teilweise beträchtlichen Reallohnverlust durch Inflation. Hart-Landsberg und Burkett selbst verweisen auf unveröffentlichte Schätzungen der chinesischen Gewerkschaften, die von einem Abfall des durchschnittlichen Realeinkommens allein für das Jahr 1987 von 21 Prozent ausgehen, wobei sich die Inflation in den Folgejahren sogar noch beschleunigt haben soll.
Trotz der sozialen Probleme, die die Reform- und Öffnungspolitik mit sich brachte, beschloß die KPCh eine Privatisierungswelle für kleine und mittlere Staatsunternehmen ab 1994 einzuleiten. Dieser Privatisierungswelle liege wiederum keine politische Notwendigkeit, sondern vielmehr die neoliberale Auffassung innerhalb der KPCh zugrunde, daß privat nun einmal effizienter sei. Hart-Landsberg und Burkett sehen in der gesamten Wirtschaftspolitik dieser Zeit eine systematische Diskriminierung staatlichen Eigentums, da diese wirtschaftliche und politische Ziele zu verfolgen hätten (darunter Beschäftigungssicherung, Sozialabsicherung usw.), während die Privatwirtschaft allein den Profit im Auge habe. So setze sich der Privatsektor mit Hilfe der Wirtschaftspolitik der KPCh durch und stehe für einen wachsenden Anteil an Bruttoinlandsprodukt und Beschäftigung. Die wirtschaftliche Zukunft der VR China sei deshalb zunehmend von der erfolgreichen Entwicklung der Privatwirtschaft abhängig.
Auch wenn die Eigentumsstruktur von Unternehmen in der VR China komplexer geworden ist, so ist doch erkennbar, daß sich derzeit eine gegenläufige Entwicklung abzeichnet: Große Staatsunternehmen dominieren nicht nur dort, wo ein staatliches Monopol festgeschrieben ist (»strategisch« wichtige Bereiche wie z.B. Energie, Telekommunikation, Rüstung), sondern weiten ihren Einfluß auch in Industriezweigen wie Maschinenbau, IT, Stahl, Bauwirtschaft aus. Dabei erwerben sie auch kontrollierende Anteile an Unternehmen, die formal als Privatunternehmen geführt werden.
Resümierend muß festgestellt werden, daß die KPCh in ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik dem Motto »Alles zu seiner Zeit« konsequent treu geblieben ist. Der schrittweisen Privatisierung folgte eine schrittweise Restrukturierung und Förderung des Staatssektors. Der Abschaffung der Sozialabsicherung über die Betriebe folgte ein schrittweiser Aufbau einer landesweiten Sozial- und Krankenversicherung. Dem Hofieren von ausländischen Unternehmen folgt die Einbindung von ausländischen Unternehmen in eine Strategie der Steuerung des Wirtschaftswachstums hin zu einer auf Hochtechnologie basierenden, sozial und ökologisch nachhaltigen Entwicklung, die sich mehr und mehr auf inländischen Konsum stützt.
Im Jahr 2005 wurde von der chinesischen Regierung das Ziel der Sozialistischen Harmonischen Gesellschaft verkündet. Kern der Reformpolitik unter diesem Vorzeichen ist die Verringerung der Entwicklungsunterschiede zwischen Stadt und Land, Ost- und Westchina sowie die Verringerung der relativen Armut. Im Kontext der Reform- und Öffnungspolitik kann einerseits festgehalten werden, daß die chinesische Führung durch das kontinuierliche Wirtschaftswachstum Verteilungsspielräume sieht, andererseits ist damit auch ein anderes Wachstumsmodell verbunden: höhere Löhne und Steigerung der Inlandsnachfrage, Verringerung der mit dem Wirtschaftswachstum verbundenen Umweltschäden, gezielte Förderung von Hochtechnologie, schrittweise Befreiung der Landwirtschaft von Steuern und Abgaben, Auf- und Ausbau landesweiter Sozialversicherungssysteme, Ausweitung des Steueraufkommens usw. gehören zu den Maßnahmen, die eine Harmonisierung der Lebensverhältnisse bringen sollen. So wurde u.a. vom Staatsrat im Vorfeld der diesjährigen Jahrestagung des Volkskongresses verkündet, daß das durchschnittliche Realeinkommen der ländlichen und städtischen Bevölkerung zwischen 2010 und 2020 eine Verdoppelung erfahren soll. Im Gegenzug wird eine neue Reichen- und Grundsteuer getestet. Insgesamt kann beobachtet werden, daß die Zentralregierung die makroökonomische Steuerung der Wirtschaft ausbaut. Der 12. Fünfjahresplan (2011–2015) deutet sogar an, daß die in den 1980er Jahren erfolgte Übertragung von Verantwortung auf die unteren Verwaltungsebenen (inklusive der entsprechenden Aufwendungen) in Teilen revidiert oder zumindest ergänzt wird. Die formulierten Ziele umfassen beinahe alle Lebensbereiche und sind mit konkreten Vorgaben bzw. Kennzahlen versehen.
In der Retrospektive sind 20 Jahre Sozialistische Marktwirtschaft und 35 Jahre Reform- und Öffnungspolitik ein Erfolg. Weder ist der totale Ausverkauf der chinesischen Wirtschaft an ausländische Investoren eingetreten, noch ist festzustellen, daß chinesische Kapitaleigner mit ihren Interessen die Agenda von Partei und Regierung dominieren. Die neuen Reformvorhaben, die im Rahmen des Aufbaus einer Sozialistischen Harmonischen Gesellschaft vorgestellt werden, deuten vielmehr darauf hin, daß die politische Führung gewillt ist, wachsende Verteilungsspielräume zur Bekämpfung nicht nur der absoluten, sondern auch relativer Armut zu nutzen. Wie es um die Durchsetzungskraft der zentralen Führung um Xi Jinping und Li Keqiang bestellt ist, wird in diesem Zusammenhang zu beobachten sein. Völlig konfliktfrei ist die Durchsetzung der Besteuerung großer Vermögen auch in der Volksrepublik nicht. Bei ihrem Ziel, die unteren Einkommensschichten stärker am wirtschaftlichen Aufstieg teilhaben zu lassen, auch und gerade um ein weiteres wirtschaftliches Wachstum zu sichern, haben sie unter den chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter starke Verbündete. Um das auf Inlandsnachfrage ausgerichtete Wirtschaftsmodell abzusichern und voranbringen zu können, steht wie in den 1980er Jahren auch eine Reihe von politischen Reformen an. Dazu gehört, die politische Einflußnahme derer stärker zu ermöglichen, die ein unmittelbares Interesse an der Umsetzung der Sozialistischen Harmonischen Gesellschaft haben.
Lars Mörking ist Doktorand und außerdem Mitglied des Vorstands der Marx-Engels-Stiftung
Quelle: Junge Welt
Geschrieben am 4. April 2013
0