Wie geht es eigentlich den Leuten in Russland ?

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Bald sind in Russland Wahlen. Für eine kleine Weile wird in den bürgerlichen Medien die innere Lage Russlands ein Thema sein. Was ist denn das für ein Russland geworden, nachdem dem Sozialismus die kapitalistische Freiheit gefolgt ist ? Viel erfährt man gewöhnlich nicht. Moskau glitzert, Petrograd auch. Autoritär soll es zugehen. Bombenexplosionen sind allemal eine Schlagzeile wert, die Explosion der Mietpreise kaum.

 

Was aus Rusland geworden ist, ist eine Sache; das Bild, das in den Medien vermittelt wird, eine andere. Wer schon etwas älter ist und sich an die Medienpolitik gegenüber der Sowjet-Union erinnern kann, sollte mal vergleichen. - Die Sowjetunion, das war etwas Finsteres. Die Menschen lebten schlecht. Dauernd gab es Versorgungsengpässe. Die Planwirtschaft war dermassen schwerfällig. Alle durften nur eine Meinung haben, und das war die der Partei. Lange kann das dort nicht mehr so weitergehen.

 

Nun, es ging nicht mehr lang so weiter. Und wie geht es jetzt ? Geht es den Menschen jetzt besser ? Können sie freier leben ? Das interessiert die bürgerlichen Medien gewöhnlich einen Dreck. Hauptsache, es gibt die SU nicht mehr.

 

Charlotte Rombach: Eindrücke aus Moskau
Nach sechs Jahren war ich wieder in Moskau. Ich bestaunte die positiven Veränderungen – viele schön renovierte alte Bürgerhäuser, teilrenovierte Wohnhäuser aus der Zeit Chruschtschows, modernste Büro- und Wohngebäude, einige neue Metro-Stationen, viele Cafes und Restaurants (leider sehr amerikanisiert), mehr studien- und karrierebewusste Jugendliche, ein großes Warenangebot, das in neuem alten Glanz erstrahlende Bolschoi-Theater, das größere Reiseangebot (allerdings kaum erschwinglich). Negativ berührten mich der unglaubliche Luxus und daneben die so offensichtliche Armut, die horrenden Preise für Lebensmittel, für Dinge des täglichen Bedarfs und den öffentlichen Verkehr, die Tausenden Autos und die damit verbundenen täglichen kilometerlangen Staus auf fast allen Straßen Moskaus, die dadurch verpestete Luft, die veraltete Infrastruktur, viele auf der Straße Bier trinkende Jugendliche ...

Russland nach 1991

 

Nachdem im August 1991 der Rettungsversuch der Parteispitze der KPdSU durch das „Staatliche Komitee für den Ausnahmezustand“ (GKTschP) fehl geschlagen war, aktivierte Boris Jelzin die antisowjetischen Kräfte, Michail Gorbatschow verriet die SU und löste die KPdSU auf – die Konterrevolution siegte. Das Land wurde zerrissen, mit dem großen sowjetischen Erbe wurde nicht viel Federlesens gemacht, es wurde zum Großteil gestohlen und unter der „Familie“ d.h. den Anhängern Jelzins verteilt. Die so genannten Eliten Russlands haben sich in den letzten 20 Jahren nur bereichert und ihren Reichtum außer Landes gebracht.



Die Sowjetunion war eines der drei mächtigsten Staatengebilde der Welt, sie war ein sicheres, gebildetes und starkes Land. Putin selbst hat den Zusammenbruch der Sowjetunion als «größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnet.

 

Nach 1991 ist das ehemalige sozialistische Land zwar Atommacht Nr. 2 geblieben, aber zu einer gnadenlos ausgebeuteten Halbkolonie geworden. Es gibt keine Industriepolitik, nicht ein einziger Industriezweig ist gewachsen, keine neuen Betriebe wurden gebaut. Die noch funktionierenden Industriebetriebe stammen aus der heute viel geschmähten Sowjetunion. Das Land vertraut traditionell den in der Sowjetzeit ausgebauten Erdöl- und Gasvorräten in Westsibirien. Der Maschinenbau stagniert, Flugzeuge, Eisenbahnen und Schiffe, Autobusse, Straßenbahnen, U-Bahn (Metro) Züge, Wasser- und Gasrohre stammen noch aus sowjetischer Zeit, sind total veraltet und müssten erneuert werden. Die Gebäude von Archiven, wissenschaftlichen Instituten, Labors usw. sind baufällig, die Einrichtung und technische Ausstattung sind veraltet. Das wissenschaftliche Potenzial ist verloren gegangen, es fehlt an Personal, denn die berufsbildende technische Ausbildung gibt es nicht mehr – an den Hochschulen hängt die Notenvergabe nicht vom Wissen, sondern vom Geldbeutel der Eltern ab. Noch halten die in der sowjetischen Zeit ausgebildeten technischen Fachkräfte mittleren Alters und Pensionisten die Wirtschaft aufrecht. Aber wo ist die Ablöse? Die besser ausgebildeten jungen Menschen emigrieren ins Ausland, da sie keine Perspektive sehen. Es gibt im Land eine Überzahl von Managern, Ökonomen, Juristen, aber es fehlt das für die reale Produktion notwendige technische Personal.

 

Die wirtschaftliche Schocktherapie der Ära Jelzin und Gorbatschow (z.B. wurden vom damaligen Finanzminister Gajdar die Preise frei gegeben) hat weit reichende schlimme Folgen. Das Land ist abhängig von Importen (Autos – mehr als 85%, Schuhe – bis zu 90%, Medikamente – 77%, Passagierflugzeuge – bis zu 62%). Industrie und Landwirtschaft wurden zerstört, die Kolchosen aufgelöst – daher werden heute Lebensmittel bis zu 80% importiert. Zerstört wurden das Bildungswesen, das Gesundheitswesen (das fast ganz privatisiert ist). Es blühen Korruption und Beamtenwillkür. In den letzten Jahren wird die Tragik des Geschehens immer offensichtlicher – private Unternehmer schließen willkürlich ihre Betriebe (wodurch Zehntausende Menschen plötzlich ihre Arbeit verlieren), Terroranschläge werden verübt, Banden terrorisieren die Bevölkerung durch Überfälle und Raub - u.a. werden alleinstehende alte Menschen ermordet, nachdem man ihnen durch Betrug die Wohnung gestohlen hat. Die nationale Sicherheit wird durch den Verfall des kulturellen und geistigen Niveaus der Bevölkerung bedroht.

Seit der Ideologe der Perestroika, A.N. Jakowlew, behauptete, ein Staat brauche keine Ideologie, entstand in Russland eine neue Ideologie mit neuem Inhalt – Feindseligkeit, Hass, Käuflichkeit, Diebstahl, Profitstreben, steigende Verbrechensraten, Aufspaltung des Volkes in Arm und Reich, Rassismus, beschämendes und geringschätziges Verhalten gegenüber Arbeit und den Arbeitenden, den Werten der Oktoberrevolution und des Großen Vaterländischen Krieges, Amerikanisierung der Kultur, Missachtung des freien Bildungszugangs für alle u.v.m.. Die Regierung vertritt nicht die Interessen der Bevölkerung. Mit jedem Jahr wird das Land weiter zurück geworfen. Hat nicht Gorbatschow (während eines Seminars in der Amerikanischen Universität in Ankara im August 2010) vorhergesagt, dass „die Welt ohne Kommunismus besser sein wird? Dass nach dem Jahr 2000 eine Epoche des Friedens und des allgemeinen Wohlbefindens anbrechen wird?“.

 

Einige Fakten

 

Die Zahl der Einwohner Russlands hat sich ungeachtet millionenfacher Migration verringert, die Lebensdauer der Menschen beträgt 66 Jahre, fast 50% der Männer und 22% der Frauen erleben das Pensionsalter nicht – und nun soll dieses auch noch erhöht werden. Dadurch und durch die Landflucht sind seit 1991 mehr als 20.000 Orte von Russlands Oberfläche verschwunden. Die Oligarchen an der Macht haben die Eigentumsverhältnisse brutal verändert – heute lebt jeder siebente Bürger Russlands in Armut. Das Moskauer Wissenschaftszentrum für Sozial- und Gerichtspsychiatrie trat vor kurzem mit der Information an die Öffentlichkeit, dass zwischen 1990 und 2010 etwa 800.000 Menschen ihrem Leben ein Ende gesetzt haben - „Das ist praktisch eine ganze Stadt“. Der Grund für diese traurige Entwicklung liegt nach Meinung von Experten in den sozial schwierigen 1990er Jahren. 2010 teilten die Weltgesundheitsorganisation und UNICEF mit, Russland liege bei Selbstmorden von Jugendlichen weltweit an der Spitze; außerdem gebe es nirgends in der Welt so viele Morde an Kindern und Jugendlichen wie hier.

Immer mehr Menschen rutschen unter die Armutsgrenze: seit Mitte 2010 ist die Zahl der Menschen unter dem Existenzminimum um 2,3 Millionen auf 22,9 Millionen gestiegen (lt. Statistischem Amt 16,1 % der Bevölkerung). Für das zweite Halbjahr 2010 wurde diese amtliche Armutsschwelle auf 5.625 Rubel im Monat (ca. 135 Euro) festgelegt. Für die arbeitende Bevölkerung werden dabei 6.070 Rubel, für PensionistInnen 4.475 Rubel und für Kinder 5.423 Rubel angesetzt. Das Existenzminimum im ersten Quartal 2011 betrug im Durchschnitt 6.473 Rubel (etwa 160 Euro) im Monat. Ein Grossteil der Armen sind Staatsangestellte, also Beamte, LehrerInnen, Krankenhauspersonal, die Beschäftigten von Bibliotheken und Museen. Übrigens verlangt die Führung der KPRF in ihrem Wahlprogramm die Anhebung des Existenzminimums für jede Person auf 17.000 Rubel pro Monat (das entspricht dem von der UNO für die Entwicklungsländer Asiens und Afrikas festgelegten Betrag).

Die fast vergessene Arbeitslosigkeit steigt – gegenwärtig sind in Russland nach internationalen Kriterien 5,2 Mio. Menschen als arbeitslos einzustufen. Dies entspricht einer Arbeitslosen-Quote von 6,9 Prozent. Im Januar 2010 waren 9,2 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung ohne Beschäftigung. Von den 5,2 Mio. Arbeitslosen in Russland sind aber nur 1,65 Mio. bei den Behörden als arbeitslos registriert. Die monatliche Arbeitslosenunterstützung betrug in den letzten zehn Jahren zwischen 100 und 850 Rubel. Zum Vergleich einige Preise: ein halbes Kilo Brot – 30 Rubel, 10 Metro-Fahrten – 265 Rubel, ein Kilo Äpfel – 77 Rubel, ein Kilo Rindfleisch 350 Rubel, ein Hendl 300 Rubel, ein paar gefütterte Winterstiefel 4.200 Rubel, Miete 5-6.000 Rubel (3-Zimmer).

 

Die Hauptstadt Moskau macht zwar wie St. Petersburg auf den ersten Blick einen sauberen und schönen Eindruck, ist aber keine Insel der Seligen. Der brutale, primitive Kapitalismus hat alle Lebenssphären der Stadt beeinflusst. In dem Zeitraum von 20 Jahren ist sie vom wissenschaftlichen, industriellen und kulturellen Zentrum in ein Bankenzentrum verwandelt worden. Die jetzige Moskauer Stadtregierung ist nicht an den Moskauern interessiert, sondern an der Teilhabe am Kuchen der Finanzströme. Einige ihrer Mitglieder sind Millionäre geworden. Die Einkommen der Moskauer Bewohner sind dagegen bedeutend bescheidener – lt. Moskauer Statistischem Amt beträgt der Durchschnittsverdienst 27.000 Rubel (wobei z.B. eine Kellnerin 1.200.- Rubel erhält, eine Ingenieurin 47.000). Das System der Macht in Moskau ist korrupt geblieben, ebenso die Willkür der Beamten – ob im Straßenverkehr, in der Schule, den Kindergärten oder dem Business. Es gibt viele Straßenkinder und Obdachlose. Mieten und Betriebskosten steigen ständig, bis zu 25% jährlich, zum Teil bestimmen private Firmen die Preise für Heizung. Der Durchschnittspreis für eine Wohnung in Moskau beträgt (lt. Metrinfo.ru per 12.9.2011) 151.638 Rubel. Die Stadt Moskau zählt heute 11 Millionen Einwohner, davon sind eine halbe Million MigrantInnen. Von letzteren arbeiten mehr als 300.000 illegal am Bau, im Handel usw.

 

Die Wahlen zur Staatsduma

 

Die KPRF (derzeit 57 Sitze, Spitzenkandidat Gennadij Sjuganow) hat ein Forderungsprogramm erstellt: Erneuerung eines sozialistischen Russland, Einstellung der zügellosen Privatisierung, Ablösung des freien Marktes durch Staatsregulierung, Nationalisierung der Mineral- und Rohstoffbasis, des Energiesektors, der Metallurgie, des Flugzeugbaues usw., Neu-Industrialisierung Russlands auf der Grundlage neuester Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik, Verdoppelung der finanziellen Mittel für die Wissenschaft innerhalb von drei Jahren, Verbesserung des Gesundheits- und Bildungswesens, keine Flat-Tax von 13% für alle, gegen das Abwandern des Finanzkapitals ins Ausland.

An der Spitze ihrer Wahlkampagne für die Dumawahlen im Dezember d.J. steht folgender Aufruf:

 

„RUSSLAND 20 JAHRE OHNE UdSSR – Präsentieren wir den Zerstörern und ihren Nachfolgern die Rechnung! Vor 20 Jahren wurden die UdSSR, die erste sozialistische Gesellschaft, zerstört. Das Volk wurde beraubt, vernichtet und beleidigt. Dem Volk wurden das Land, die Bodenschätze, das Erdöl und das Erdgas gestohlen. Es wurden die Industriebetriebe vernichtet, woraus Arbeitslosigkeit, Rechtlosigkeit der arbeitenden Bevölkerung und Luxus von Parasiten resultierten. Das Volk wurde an den Rand des Aussterbens gebracht. Ihm wurde die Zukunft geraubt. Dieser Vernichtungskurs wird beibehalten! Genug! Wir müssen diesen Prozess aufhalten! Es ist Zeit, das Gestohlene wieder zu erobern! Schluss mit der Restauration des Kapitalismus in Russland!“

 

Rassismus und Xenophobie werden bei diesen Wahlen eine große Rolle spielen. Denn russische Nationalisten gehen immer öfter aggressiv gegen MigrantInnen aus den ehemaligen südlichen Republiken vor, denen sie „Ethnobanditentum“ vorwerfen. Es gibt natürlich Banden aus Asien und dem Kaukasus, aber genau so russische kriminelle Gruppen. Die Sicherheitsorgane andererseits nehmen oft Partei für die russischen Banden, denn erstens sind sie auch durchdrungen von nationalistischen Ideen und zweitens sind sie korrupt – sie werden von den Angehörigen beider Seiten bestochen. Für Anfang November haben die Nationalisten („Russkije) einen „Russischen Marsch“ angekündigt. Die meisten Morde geschehen aber bei kriminellen Bandenkämpfen, nicht bei nationalen Konflikten. Die Medien spielen sie jedoch verantwortungslos als Nationalitätenkonflikt hoch. Und die Regierung schaut weg.

 

Wird sich bei den geschilderten tristen Verhältnissen die russische Bevölkerung endlich aus ihrer Apathie lösen und der Regierung einen Denkzettel verpassen? Viele ältere Menschen werden bei der Duma-Wahl die KPRF, bei der Präsidentenwahl jedoch Putin wählen. Denn für sie war und ist er noch immer ein Faktor der Stabilität nach dem Chaos der 1990er Jahre. Putin ist dem Westen gegenüber weniger aufgeschlossen als Medwedjew, ist gegen den Beitritt in die EU und die Nato, tritt gegen das amerikanischen Raketenabwehrsystem in Polen auf, kämpft in Ansätzen gegen Korruption und Steuerhinterziehung. Er lässt regelmäßig die Pensionen erhöhen – allerdings steigen gleichzeitig die Preise für Lebensmittel, Wohnen, Energie ... Am letzten Parteitag von „Einiges Russland“ teilte er mit, dass die Steuern für Reiche angeblich erhöht würden – ein Wahlgag?

 

Ch. Rombach, September 2011

 

Quelle: http://www.kominform.at/article.php/20111107185359793

 

 



Veröffentlicht in Osteuropa

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A
<br /> <br /> leider eine sehr treffende beschreibung der verhältnisse<br /> <br /> <br /> <br />
Antworten
S
<br /> <br /> Die Wahlen werden ja nichts ändern. Gespannt bin ich trotzdem, weil an ihnen die Stimmung abzulesen sein wird.<br /> <br /> <br /> <br />