DKP-Debatte: Politisches Abseits und Opportunismus
In der UZ - Unsere Zeit, Wochenzeitung der DKP - vom 10. Juni 2011 ist ein Artikel von Walter Listl, dem Sprecher des Bezirks Südbayern der DKP, erschienen, der so überschrieben ist: " EU auflösen ? Oder wie man sich ins politische Abseits manövriert." Der Artikel ist bei http://www.secarts.org/ nachzulesen. Im Folgenden eine Antwort auf einige Aspekte, die Listl anspricht.
Walter Listl frägt die Gegner einer linken Zielbestimmung "alternative EU" :"...
was sich ändern würde, wenn die reaktionäre Politik der EU dann nicht mehr von deren Gremien, sondern von den Nationalstaaten ausgeübt würde." Das sei eine spannende Frage.
Nein, ist sie nicht. Wenn etwas, das nicht existiert, sich ändert, ist das nicht spannend, sondern fiktiv. Die reaktionäre Politik der EU wird nicht von deren Gremien entschieden, sondern von eben den Nationalstaaten. Man kann nicht dahin zurückkehren, wo man nicht aufgehört hat zu sein. Listl nimmt für seine Einschätzung des Ist-Zustands der EU als Grundlage nicht die Tatsachen, sondern die Kolportagen der bürgerlichen Propaganda, die schlecht informierte Bürger für wahr halten und damit in der Stimmung sind zu meinen: "Fest steht doch, dass schon heute die überwiegende Mehrheit der Bestimmungen, Regeln, Gesetze und Vorschriften, die unser Leben bestimmen von EU-Institutionen vorgegeben werden."
Wie sind die Gewichte zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU verteilt ? - Der EU-Haushalt ist ungefähr halb so hoch wie der des deutschen Staates. Aber die "EU-Institutionen" geben vor, und die Staaten sind nur noch ein Rest, zu dem besser nicht zurückgekehrt wird ?
Lissaboner Verträge zum Verhältnis Mitgliedsstaat/EU:
"Ausschliessliche Zustaendigkeiten der EU"(1) Die Union hat ausschliessliche Zustaendigkeit in folgenden Bereichen:a) Zollunion, b) Festlegung der fuer das Funktionieren des Binnenmarkts erforderlichen Wettbewerbsbedingungen, c) Waehrungspolitik fuer die Mitgliedstaaten, deren Waehrung der Euro ist, d) Erhaltung der biologischen Meeresschaetze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik, e) gemeinsame Handelspolitik."
Das ist alles. Die "ausschliesslichen Zustaendigkeiten" sind also ausschliesslich solche, die einen einheitlichen EU-Wirtschaftsraum betreffen. Die Rede ist hier weder von den inneren Rechtsverhaeltnissen der Staaten, noch von deren Institutionen - dem Herrschaftsapparat -, noch von Aussen- und Militaerpolitik. Damit ist nicht die Rede vom Kern jeder Staatsmacht, von dem, was ihre Macht ueber die Bevoelkerung und ihre Machtantfaltung nach aussen wesentlich ausmacht. Aus dem Gesamtzusammenhang des Lissaboner Vertrags geht sogar hervor, dass diese beschraenkten angeblich "ausschliesslichen Zustaendigkeiten" der EU in Wirklichkeit mit zahlreichen Vorbehalten versehen sind, die darauf hinauslaufen, dass die einzelnen Staaten selbst fuer diese im Fall eines in Not geratenden einzelstaatlichen Interesse einen Souveraenitaetsvorbehalt machen. ( http://kritische-massen.over-blog.de/article-wird-die-eu-ein-staat-der-lisabonner-vertrag-76381995.html )
Daneben gibt es nach den Lissaboner Verträgen sogenannte "geteilte Zuständigkeiten". Für sie gilt:
"
(1) Fuer die Abgrenzung der Zustaendigkeiten der Union gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermaechtigung. ... (3) Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermaechtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zustaendigkeiten taetig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Vertraegen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele uebertragen werden. Alle der Union nicht in den Vertraegen uebertragenen Zustaendigkeiten verbleiben bei den Mitgliedstaaten."
(Art. 3 b )... "(1) Alle der Union nicht in den Vertraegen uebertragenen Zustaendigkeiten verbleiben ... bei den Mitgliedstaaten. (2) Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Vertraegen und ihre jeweilige nationale Identitaet, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmaessigen Strukturen ... zum Ausdruck kommt. Sie achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere sie Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der oeffentlichen Ordnung und den Schutz der nationalen Sicherheit. Insbesondere die nationale Sicherheit faellt weiterhin in die alleinige Verantwortung der einzelnen Staaten. (Art. 3 a )
Hinsichtlich der relativen Gewichte von EU-Recht und Politik der Einzelstaaten gibt Letztere im Konfliktfall den Ausschlag. Die Erfuellung des EU-Rechts unterliegt letzten Endes dem politischen Kalkuel der Einzelstaaten . Die wirklichen Moeglichkeiten der "Auslegung", das Mass der wirklichen Verbindlichkeit von EU-Recht fuer den einzelnen Staat, ist zuletzt keine Rechtsangelegenheit, sondern bleibt eine Frage der Macht, der Machtgewichte zwischen den Mitgliedstaaten und der Ueber- und Unterordnungsverhaeltnisse, die aus diesen Machtgewichten resultieren. (aaO)
Die Befürworter einer "alternativen EU" meinen, man könne die Entwicklung der EU mit der der Nationalstaaten vergleichen. Das ist Spekulation. Der Stand ist, dass die Lissaboner Veträge gerade Ausdruck der Unfähigkeit sind, eine "suprastaatliche" EU herzustellen. Die EU-Verfassung ist gescheitert. Übrig geblieben ist ein Vertrag. Das ist keine Formalie. Im Unterschied zu einer Verfassung, die ein völkerrechtliches souveränes Subjekt setzt, handelt es sich bei den Lissaboner Veträgen um zwischenstaatliche Verträge. Vertraege werden bekanntlich erfuellt, veraendert, gebrochen oder auch beendet. Die Subjekte, die das tun, sind im gegebenen Fall die einzelnen Staaten. Eine Verfassung waere etwas anderes, naemlich der Untergang der bisherigen Subjekte (der Staaten) und ihr Aufgehen in einem neuen Subjekt, die Aufgabe der einzelstaatlichen Souveraenitaet zugunsten eines neuen Souveraens (der EU). Dergleichen existiert nicht. Ambitionen in diese Richtung mussten aufgegeben werden. Selbst die Lissaboner Veträge konnten den Völkern nur unter "äusserster Dehnung" selbst bürgerlich-demokratischer Rechte oktroyiert werden.
Zur Verbindlichkeit der Mitgliedschaft in der EU heisst es in den Lissaboner Verträgen lapidar:
"(1) Jeder Mitgliedstaat kann ... aus der EU austreten. (2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschliesst, teilt dem Europaeischen Rat seine Absicht mit ..."
Wenn von linker Gegnerschaft zur EU die Rede ist, ist nicht die Rede von "zurück zum Nationalstaat", sondern von einem für die Völker der Mitgliedsstaaten bedrückenden Staatenbündnis, das von dessen Führungsmächten, an erster Stelle Deutschland, dazu benutzt wird, die nationale Souveränität und das Selbstbestimmungsrecht der schwächeren Mitgliedsstaaten zu untergraben und diese, wie aktuell im Fall Griechenland und Portugal, geradezu in Protektorate zu verwandeln. Was die Arbeiterklasse und die Volksschichten in Europa internationalistisch einen kann, ist nicht eine nebulöse "Idee von einer alternativen EU", sondern der Kampf gegen imperialistische Dominanz und Unterdrückung. Das ist auch im Interesse der deutschen Arbeiterklasse, weil ein Volk nicht frei sein kann, das andere unterdrückt und weil die Verarmung der schwächeren EU-Mitgliedstaaten auch auf sie zurückschlagen wird, z. B. in Form noch niedrigerer Löhne und des weiteren Abbaus erkämpfter sozialer Errungenschaften.Kommunisten haben an sich selbst den Anspruch, ihre Politik aus der, nach Möglichkeit wissenschaftlich fundierten, Analyse der tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse abzuleiten, und zwar aus dem Blickwinkel der Interessen der Arbeiterklasse. Wunschvorstellungen oder die Übernahme der Ideen anderer haben darin keinen Platz, ebensowenig eine opportunistische Anpassung an verbreitete Irrtümer.
Listl zitiert auf einen Artikel von Georg Polikeit in der UZ vom 20.11.2009: "Es gibt ein breites Spektrum von Kräften, die sich mit der ... EU-Entwicklung und ihren Folgen nicht abfinden wollen und können, weil ihre elementaren Lebensverhältnisse verletzt werden. Dieses Spektrum reicht von Gewerkschaften, Linkssozialisten, Sozialdemokraten und globalisierungskritischen, sozialen, ökologischen und antiimperialistischen Bewegungen, bis zu christlichen Kreisen. Ihr politischer Wille kristallisiert sich in mehr oder weniger ausgeprägten Vorstellungen von einem anderen Europa oder einem sozialen Europa. Im gemeinsamen Handeln mit all diesen Kräften liegt der Schlüssel zur Veränderung des Kräfteverhältnisses ... für ein anderes Europa." Listl folgert daraus: " Innerhalb dieser Bewegungen ist die Forderung nach "Abschaffung der EU" nicht politikfähig, weil sie objektive ökonomische und gesellschaftliche Verhältnisse ausblendet, auf deren Grundlage wir an Alternativen arbeiten müssen."
Unbestreitbar haben "Vorstellungen von einem anderen Europa oder einem sozialen Europa" Anhang. Das beschreibt Polikeit zutreffend. Für die Europäische Linkspartei ist dies geradezu der Lebenszweck. Aber wie verhält es sich mit dem Realisierungspotential dieser Ideen ? Liegen ihnen wirklich "objektive ökonomische und gesellschaftliche Verhältnisse" zu Grunde ?
Zu Grunde liegen Fehleinschätzungen der EU, ihres Charakters, ihrer historischen Perspektive, ihrer Einordnung in die Verhältnisse der imperialistischen Epoche in deren fortgeschrittener Entwicklungsphase im Weltmassstab. Zu Grunde liegt die fehlerhafte These vom "kollektiven Imperialismus", der angeblich die Widersprüche zwischen den imperialistischen Staaten abschwächt, die gesetzmässige Ungleichheit deren Entwicklung und die darin liegende Kriegsgefahr negiert, die sozialdemokratische These von einem "Nord-Süd-Konflikt" annimmt.
Indem sich Listl dies zu eigen macht, ist er es - und leider ist er nicht der einzige -, der tut, was er anderen vorwirft: Er blendet die objektiven ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse aus, so weit sie nicht die "Idee einer alternativen EU" stützen. Die Angst vor dem "politischen Abseits" trübt den Blick. Das ist, was man Opportunismus nennt.
Differenzen in der Analyse und in den Schlussfolgerungen, die aus ihr zu ziehen sind, sind normal, wenn neue gesellsachaftliche Erscheinungen theoretisch verarbeitet werden müssen. Über sie kann solidarisch diskutiert werden. Uneinigkeit in theoretischen Fragen und deren praktisch-politischen Schlussfolgerungen kann entweder durch geduldige Diskussion ausgetragen werden, durch das Eingehen auf die Argumente der anderen, durch eine Politik, die den Konsens beinhaltet und Rücksicht auf die Differenzen nimmt. Oder man kann versuchen, die eigenen Thesen durchzudrücken, obwohl es gegen sie bedeutende Einwände gibt und ein grosser Teil der Partei diesen Thesen nicht folgt. Wer das tut, betreibt Fraktionierung. Dabei ist es ganz egal, ob er in der Mehrheit oder in der Minderheit ist.
Der Vorwurf des "politischen Abseits" im gegebenen Zusammenhang und die Versuche, die eigenen Vorstellungen - z. B. im Zusammenhang mit der EL-Kampagne - gegen einen bedeutenden Teil der Partei durchzusetzen drückt aus, dass der Schulterschluss mit der Linkspartei für wichtiger genommen wird als die Einheit der Partei. Wenn die Anhänger der These vom "kollektiven Imperialismus" ihre Politik weiterhin so anlegen, dass sie sich nur auf die ihnen genehmen Passagen des Parteiprogramms berufen, in jeder strittigen Frage Mehrheiten zu ergattern versuchen und Minderheiten anschliessend im Namen der Parteidisziplin zur Unterordnung zwingen wollen, anstatt den Konsens zu suchen, betreiben sie damit, ob gewollt oder nicht, die Spaltung der Partei.
Es gibt den Einwand, die DKP werde unfähig, politisch einzugreifen, wenn sie sich auf den Konsens konzentriert anstatt auf angeblich dringende aktuelle politische Kampagnen. Das ist nicht wahr. Es gibt viele unstrittige gemeinsame Inhalte, die zu verfolgen Arbeit genug wäre, die angesichts der Kleinheit der Organisation noch nicht einmal geleistet werden kann. Wer nicht dies in den Vordergrund stellt, sondern das Strittige, muss sich fragen lassen, worauf er hinaus will. Ist die grösstmögliche Nähe zur Linkspartei und zu den Kräften, die Polikeit benennt, wichtiger als die Einbeziehung der ganzen Partei - und zwar nicht der mit Mehrheiten erzwungenen, sondern der einvernehmlichen und solidarischen in den Fragen, in denen das möglich ist ? Und wenn ja: Warum ? Mit welcher Perspektive ?