Brüche im Zeitgefühl: Die Nachkriegsjahrzehnte und heute

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

In den Jahrzehnten nach dem II. Weltkrieg stieg in einer Reihe von "westlichen" Ländern nicht nur der Wohlstand der Reichen beträchtlich, sondern auch die Masse der Bevölkerung lebte vom Jahrzehnt zu Jahrzehnt besser. Es schien sich zu bewahrheiten, dass die "Marktwirtschaft" letzten Endes für alle gut sei. Als Kind habe ich diesen Übergang noch erlebt; Vater und Mutter Knecht und Magd auf einem Bauernhof, zwei Zimmerchen, kein fliessendes Wasser, das wöchentliche Bad in einer Blechwanne in der Waschkammer, das heisse Wasser dazu aus dem Kessel geschöpft, in dem an anderen Tagen die Kartoffeln für die Schweine gedämpft wurden; Ende der 1950er Jahre dann ein eigener kleiner Bauernhof, die erste Renovierungsmassnahme war ein richtiges Badezimmer; um 1960 herum das erste Fernsehgerät, ein paar Jahre später der VW Käfer; als erster Kleinbauernsprössling im Dorf konnte ich auf das Gymnasium in der nächstgelegenen Kleinstadt wechseln ... Das ist im Leben eines einzelnen Menschen lang her, aber geschichtlich ist es eine Episode. Damals schien es mir selbstverständlich zu sein, dass die Zukunft immer besser werden würde, und das war wohl das allgemeine "Zeitgefühl". Die Errungenschaften wurden um so höher geschätzt, als die vergangenen Notzeiten noch ganz nahe waren.

 

In unser damaliges "Zeitgefühl" ging nicht ein, dass die Verhältnisse auf dem Globus, abgesehen von einigen westeuropäischen Ländern, den USA und Japan, unverändert vom Elend der Masse der Menschen geprägt waren. "Da drüben" in Asien, "da unten" in Afrika - das war irgendwie eine andere Welt  Nicht umsonst sprach man von der "dritten" und "vierten" Welt. Irgendwie war das gar nicht Kapitalismus, sondern irgendetwas anderes, und richtigen Kapitalismus gab es ohnehin nicht mehr. Das Wort war verpönt. Wer es in den Mund nahm, outete sich als Kommunismusverdächtiger. "Geh doch rüber, wenn´s dir hier nicht passt". Es gab nur noch die soziale Marktwirtschaft Die "da drüben", "da unten" waren halt noch weit zurück. Freilich bestand auch für sie Hoffnung - man ernannte sie zu "Entwicklungsländern".

 

Der "westliche" Zukunfstoptimismus von damals unter Ausblendung der Realität für die "übrigen" 90 Prozent der Menschheit hat sich nicht bewahrheitet. Der Dünkel, zu den "westlichen Wohlstandsgesellschaften" leckt immer noch selbst bis in die schäbigen Quartiere voller vereinsamter, ernüchterter, sich ohnmächtig fühlender Bürger "des Westens", aber der Zukunftsoptimismus ist gebrochen und einem "Zeitgefühl" gewichen, in dem Befürchtungen und Pessimismus die Oberhand haben. Man spricht das Wort Kapitalismus wieder ungeniert aus - und es hat wirklich keinen guten Klang heutzutage - , man kann das Wort soziale Marktwirtschaft nicht mehr hören. Dass "da oben" die Reichen sind und "da unten" die Armen, zu denen auch immer mehr vermeintliche Mittelständler gehören, wird wieder - es war in den Nachkriegsjahrzehnten durchaus nicht anders - wahrgenommen. Unmut sammelt sich an, verdichtet sich da und dort zu Wut. Man kann spüren: Es braut sich etwas zusammen.

 

Armut ist im "wohlhabenden Westen" wieder ein Thema. In den untersten Schichten wird wieder gehungert. Die "Tafeln" (was für ein zynisches Wort), die Suppenküchen, die Lebensmittelmarken, Obdachlosen-Asyle und jede denkbare Form der "Armenfürsorge" und Caritas haben Konjunktur. Weinachten 2011, lese ich irgendwo, werden in Deutschland, im "reichen Deutschland", 250 000 Menschen als Obdachlose verbringen. Jeder sechste US-Bürger kann sich ohne staatliche Lebensmittelmarken nicht mehr selbständig ernähren. In Griechenland werden Schulkinder im Unterricht ohnmächtig vor Hunger. In Spanien sind fünf Millionen Menschen arbeitslos, fast die Hälfte der Menschen unter 25 Jahren. 50 Millionen USamerikaner haben keinerlei Krankenversicherung. Die Favelas wachsen nicht mehr nur in Mexiko und Indonesien, sondern auch in Detroit, Barcelona und Rom. Menschen balgen sich an den Hinterausgängen der Supermärkte um nicht mehr verkäufliche Lebensmittel ...

 

Nichts daran ist neu. So war Kapitalimus schon immer, seit es ihn gibt. Die paar Jahrzehnte nach dem II. Weltkrieg war in einem kleinen Teil der Welt eine Sonderperiode, ein kurzlebiger Ausnahmefall. "Die im Dunkeln", die es auch damals gab, sah man um so weniger, als ihre Existenz der "Logik der Entwicklung" zu widersprechen, nur ein letzter Rest Armut zu sein schien.

 

Damals, als ich als Junge zum ersten mal mit dem Werk von Marx/Engels in Berührung kam, knabberte ich am meisten an der Behauptung, Kapitalismus sei unweigerlich mit dem Elend der Arbeitenden verbunden. Der Begriff Ausbeutung war, unwiderlegbar logisch, aus dem Verhältnis von Kapitalisten und Arbeiterklasse abegleitet. Aber sprach nicht der Augenschein dagegen (und Lateinamerika, Afrika, Asien war doch "irgendwie was anderes") ? War der Begriff nicht seltsam wirklichkeitsfremd, wenn die Arbeiter doch alle Opel und Käfer fuhren, sich Eigenheime bauen konnten, viele Urlaub in Rimini und Jesolo machten, von überall her aus dem Süden Millionen kamen, die ihre Zukunft darin sahen, sich von deutschen Kapitalisten ausbeuten zu lassen ?

 

Als Studenten stritten wir uns in der 1970er Jahren um Marx´ These vom tendenziellen Fall der Profirate. Noch in den 1980er Jahren, als die Kapitalisten sich unter dem Slogan "Flexibiliserung" an die Auflösung des Normalarbeitstages, der  Vollzeitbeschäftigung und die Einführung der heutigen Drecksjobs machten, wurde unter Linken allen Ernstes darüber gestritten, ob "Flexibilisierung" nicht auch für die Lohnabhängigen mehr Freiheit und Selbstbestimmung bedeute.

 

Die Monate-Arbeiterin, die heute für einen Stundenlohn von sieben Euro brutto schuftet und am Morgen nicht weiss, ob der Sklavenhalter, bei dem sie beschäftigt ist, sie nicht am Abend kündigt, hat alle diese hochtheoretischen Probleme nicht. Sie hat das höchst praktische Problem augenscheinlich unverschämter Ausbeutung und eines Lebens in Armut.

 

Das lassen sich die Arbeitenden auf Dauer nicht gefallen, ohne sich zu wehren. Das ist, was sich zusammenbraut.

Veröffentlicht in Kultur und Gesellschaft

Um über die neuesten Artikel informiert zu werden, abonnieren:
Kommentiere diesen Post