Ökologische Katastrophe oder Garten Eden

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Wenn es nach dem Mainstream der Ökologie-Bewegung geht, ist der Mensch ein Schädling der Natur. Weniger schädlich kann er nur werden, wenn er seine Bedürfnisse reduziert. Die Perspektive sei, sich wieder in die Natur einzufügen. Alles andere sei ein Weg in die Katastrophe - Zerstörung der "Umwelt", Gefährdung des Lebens auf unserem Planeten.

 

Was die Beschwoerung kuenftiger Katastrophen plausibel macht, sind einige Tatsachen. Die Zahl der Menschen hat sich innerhalb weniger als zweihundert Jahren mindestens verzehnfacht. In dem Stoffwechselverhaeltnis, in dem die Menschen mit dem uebrigen Lebensprozess auf dem Planeten stehen, hat sich der "menschliche Faktor" in diesem Zeitraum nicht nur verzehn- sondern eher vertausendfacht - oder etwas in dieser Groessenordnung. In der gesamten vorhergegehenden Geschichte war die menschliche Koerperkraft die Hauptenergiequelle fuer die Produktion gewesen, effektiviert durch Hand-Werkzeuge und ergaenzt durch einen Anteil tierischer, Wasser- und Windkraft und die Nutzung einiger chemischer Prozesse, wie z.B. bei der Gewinnung von Metallen. Seit der ersten industriellen Revolution, deren technische Grundlage die Dampfmaschine war, werden Motoren,  die Maschinen bewegen, immer mehr zur Hauptenergiequelle in der Produktion.

 

Der Energieumsatz in der Produktion konnte so gigantisch gesteigert werden. Es ist seitdem, als haette jeder Arbeiter die Kraft von zehntausend Elefanten. Die Handbewegung eines Kranfuehrers kann buchstaeblich Haeuser versetzen. Auf der Schaufel des Riesen-Baggers, wie sie im Bergbau Verwendung finden, liegen dreissig Tonnen. Die elektronische Regulierung eines Silan-Ofens durch einen Chemiearbeiter erzeugt Werte, die die Reproduktionskosten des Arbeiters um das Tausendfache uebersteigen. Um die fuer diese Explosion der Arbeitsproduktivitaet notwendigen fossilen Energiestoffe und die fuer die Maschinerie notwendigen Erze zu gewinnen, werden die entsprechenden Vorkommen im planetaren Massstab erschlossen. Gleichzeitig werden die vernutzten Stoffe in entsprechendem Umfang in die Natur zurueckgegeben. Im Ergebnis gibt es praktisch kaum noch eine Nische des planetaren Lebensprozesses, die nicht vom Menschen beeinflusst werden wuerde, zum Teil, weil Fauna und Flora direkt fuer menschliche Zwecke genutzt werden, zum Teil, weil die menschliche Lebenstaetigkeit deren Lebensbedingungen veraendern.

Es gibt im planetaren Lebensprozess nichts Vergleichbares. Alle anderen Formen des Lebens sind fuer ihr Fortkommen im wesentlichen auf ihre Koerperkraft, Geschicklichkeit und Anpassungsfähigkleit angewiesen. Die Spitze der Effektivierung der Selbstreproduktion sind Formen von Kooperation in einer einfachen Arbeitsteilung. Die menschliche Gesellschaft ver-zigfacht dagegen die eigenen Kraefte mit Technik. Der Mensch ist inzwischen zu einer Art geworden, die auch in dieser Hinsicht im evolutionaeren Prozess einen qualitativen Sprung gemacht hat. Er ist nicht mehr einfach ein Teil des Naturprozesses, sondern tritt diesem als etwas revolutionaer Neues gegenueber. Was in den religioesen Legenden als "Aufgabenstellung" - "Macht euch die Erde untertan" - ahnend programmatisch formuliert ist, ist heute verwirklicht. Damit steht eine neue Aufgabe an: Das bisherige spontane, gewissermassen noch tierische Verhaeltnis des Menschen zum uebrigen Leben und zu den planetaren Bedingungen des Lebens auf eine neue Grundlage zu stellen.

Die Geschwindigkeit des Wachstums  des Stofffwechselsumfangs Mensch-Natur uebertrifft die Geschwindigkeit natuerlicher Veraenderungen bei weitem, ist, verglichen mit dem Einfluss anderer Arten auf ihre Umwelt, spezifisch menschlich, und hat explosionsartigen Charakter. Bisher kamen, soweit bekannt, rasche Veraenderungen in der belebten Natur nur als Folge chemisch-physikalischer Prozesse des Planeten selbst - etwa Bewegungen der Erdkruste, Vulkanismus - oder kosmischer Einfluesse - etwa Veranderungen der Energieabgabe der Sonne, Kollision mit grossen Meteoren - vor. Mit der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften in neuester Zeit kommt wahrscheinlich ein neuer Faktor in den Evolutionsprozess, dessen Qualitaet zunaechst einfach schwer abzuschaetzen ist, weil es vergleichbare Erfahrungen noch nicht gibt.

Die Geschwindigkeit und der Umfang der vom Menschen verursachten Veraenderungen koennte auch deswegen fuer die weitere Entwicklung des Lebens eine Rolle spielen, weil die Anpassung an neue Bedingungen eine gewisse Zeit braucht und weil die einzelnen Lebensformen nicht unbegrenzt anpassungsfaehig sind, sondern dafuer einen - wenn auch je nach Art sehr unterschiedlichen - begrenzten "Spielraum" haben. Es kann also sein, dass der Mensch den planetaren Lebensprozess, oder Teile von ihm, in eine Stresssituation bringt, in der sich entscheidet, ob dieser den menschlichen "Zumutungen" gewachsen ist oder nicht.

 

Was die menschlichen Gesellschaften betrifft, ist fuer die Veraenderungen charakteristisch, dass die neue Qualitaet des Mensch-Natur-Stoffwechsels kein Kriterium fuer die herbeigefuehrten Veraenderungen ist. Diese sind bis heute eine sozusagen innere Angelegenheit der menschlichen Gesellschaften. Die "externen" Folgen im uebrigen Lebensprozess spielen praktisch keine Rolle und finden nur dann und insoweit ueberhaupt Aufmerksamkeit, als sich daraus fuer den Menschen selbst nachteilige Folgen ergeben oder solche befuerchtet werden.

Die menschlichen Gesellschaften verhalten sich damit wie jede andere Art von Leben auch: Die Entwicklung folgt den eigenen Beduerfnissen, zunaechst ungeachtet der moeglichen Folgen, d.h. dem Prinzip Versuch und Irrtum. In die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften selbst gehen alle wissenschaftlichen Kenntnisse und technischen Faehigkeiten ein und diese wird in gewissen Grenzen geplant und organisiert betrieben. Dagegen ist der Stoffwechsel mit der Natur kaum weniger unbewusst als der beliebiger anderer Saeuger. Die Rolle, die der Mensch heute im planetaren Lebensprozess spielt, ist so gross, dass sie die Grenzen der natuerlichen Ausregelung innerhalb des evolutionaeren Prozesses vermutlich bereits ueberschreitet und es notwendig waere, diesem ein spezifisch menschliches Element hinzuzufuegen. Versuch und Irrtum muessten im Umgang von einer wisenschaftlich begruendeten und umfassend geplanten Handlungsweise abgeloest werden.

Diesen Uebergang vollziehen die menschlichen Gesellschaften von heute aber selbst in ihrem "Innenleben" nicht umfassend. Eine Wirtschaftsweise, in der es nicht um die Befriedigung der menschlichen Beduerfnisse geht, die geplant und weltweit organisiert wird, sondern dies bestenfalls nur die Nebenbei-Folge eines ganz anderen Antriebs ist, kann das auch nicht leisten. Die gesellschaftliche Verfasstheit, vor allem das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die daraus folgenden Interessensgegensaetze in der Gesellschaft und der daraus folgenden Allokation von Ressourcen und Guetern mittels des Märkten sind schon vom Standpunkt der inneren Weiterentwicklung der Gesellschaften aus irrational. Was das Mensch-Natur-Verhaeltnis betrifft, verunmöglichen sie, die anstehende Problemstellung ueberhaupt ernsthaft zu erfassen, von Loesungen -. die vermutlich auch unter vernuenftigen gesellschaftlichen Verhaeltnissen schwierig waeren und die groessten Anstrengungen, die Konzentration aller Wissens- und technischen Ressourcen darauf erfordern wuerden - gar nicht zu sprechen.

So lange im Zusammenhang mit dem Mensch-Naturverhaeltnis nicht die fuer ein rationales Verhalten notwendige Art und Weise der gesellschaftlichen Organisation in die Problemdiskussion einbezogen wird, nimmt diese zwangslaeufig einen unernsten, illusionaeren, phantasierenden Charakter an.

Die heuchlerische Moralisiererei in Sachen "Umweltschutz" - ein beschraenkter, dummer, das Problem gar nicht erfassender Begriff - und eifernden Beschwoerungen entsprechen genau diesem Ausblenden der Frage nach einer Gesellschaftsordnung, die sich dem Problem Mensch-Naturverhaeltnis wirklich stellen koennte. Die staatlichen Massnahmen, die  idealistische Kleingaertnerei der in Umweltfragen engagierten Buerger, die Symbolhandlungen  im taeglichen Leben in Sachen Umweltschutz, die naive Maxime, jeder muesse "bei sich selbst anfangen" und die Summe all der "kleinen Beitraege" zum Umweltschutz sei fuer diesen ein sinnvolles Mittel, die allfaelligen gigantischen Konferenzen von Wissenschaftlern und Staatsrepraesentanten, die Einrichtung von "Umweltschutzministerien" und -zig anderen Institutionen sind der, angesichts der Groesse des Problems laecherliche, Leerlauf, der aus der Ausblendung dieser Frage notwendigerweise folgt.

Waehrend alle diese Ablasshandlungen vollfuehrt werden, werden in den entwickeltsten Regionen pro Kopf und Jahr 500 Kilo Abfaelle in die die "Umwelt" gekippt, also, nur Nordamerika, Westeuropa und Japan gerechnet, 3,5 Milliarden Tonnen. Zehn Milliarden gesparter Plastiktueten wuerden diese Menge natuerlich mindern - in der Groessenordnung von 100 000 Tonnen. Das kann man als Charakteristikum nehmen fuer die Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit.

Damit wird auf die "Umweltproblematik" faktisch eine ganz bestimmte Antwort gegeben: Sie wird bestenfalls in dem Mass beruecksichtigt, in dem sie die gegebene Gesellschaftsordnung nicht in Frage stellt. - Das heisst, die Antwort steht in einem irrationalen Verhaeltnis zur Problemstellung, naemlich unter der Parole "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass".

Man kann mit absoluter Sicherheit sagen, dass das Problem Mensch-Naturverhaeltnis auf diese Weise nicht auf vernuenftige Weise geloest werden wird. Vielmehr handelt es sich dabei um die Verlaufsform eines weiterhin spontanen, unbewussten Mensch-Naturverhaeltnisses, die durch ein vernuenftigeres Verhalten abzuloesen im Rahmen der gegebenen Gesellschaftsordnung nicht moeglich ist.

Was waere notwendig ?

Die Herstellung eines Mensch-Natur-Verhaeltnisses, das in der Lage ist, die Einwirkungen des Menschen auf den uebrigen planetaren Lebensprozess, die chemische Zusammensetzung der Luft und des Bodens, die Temperatur,  das Klima und Wetter umfassend in der menschlichen Lebenstaetigkeit  zu beruecksichtigen, macht es erforderlich, dass die menschliche Gesellschaft sich dafuer zweckentsprechend organisiert. Wenn es wahr ist, dass von der weiteren Entwicklung des Mensch-Natur-Verhaeltnisses unser Ueberleben und vielleicht sogar das Leben auf dem Planeten ueberhaupt abhaengt, folgt daraus zwingend, dass der Herstellung eines vernuenftigen solchen Verhaeltnisses alles andere untergeordnet werden muss. Jeder andere Fortschritt kann gegenueber diesem Erfordernis nur nutzlos oder sogar schaedlich sein, wenn er nicht zu dieser Hauptaufgabe beitraegt.

Das ruehrt an die Grundfesten der gegenwaertigen Gesellschaft. In ihr spielt gesamtgesellschaftliche Vernunft, fuer sich genommen, keine Rolle. Die vorkommende Rationalitaet spielt eine dienende Rolle. Bedient werden von ihr Verhaeltnisse, die nicht gesamtgesellschaftlich-rational sind, sind.

Nach christlicher Vorstellung ist der Mensch die "Krone der Schoepfung". Er ist danach Benutzer und Herr der Natur - "macht euch die Erde untertan".  Diese gewissermassen naiven Auffassungen wurden bereits im 19. Jahrhundert, namentlich von Marx und Engels, theoretisch auf den Boden der Tatsachen gebracht. Marx spricht vom Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, betrachtet also die menschliche Spezies als Teil des Lebensprozess auf dem Planeten und als Verhaeltnis dieses Teils zum Gesamten. Auch diesem Ansatz folgt aber, dass die Untersuchung dieses Verhaeltnisses vom Standpunkt des Menschen aus geschehen muss, und dass es bei daraus ableitbaren menschlichen Handlungen darum geht, dies im Interesse des Fortkommens des Menschen zu tun - nur eben nicht blind, spontan und von den Folgen absehend, wie das alle anderen Lebewesen tun, sondern bewusst, unter Benutzung der Naturgesetze und -Ressourcen fuer die eigenen Zwecke und dabei, auch im eigenen Interesse, darauf bedacht, das Mensch-Naturverhaeltnis so zu gestalten, dass die notwendigen Bedingungen fuer den Lebensprozess erhalten bleiben.

Aus der Marxschen Analyse der kapitalistischen Gesellschaft laesst sich schluessig ableiten, dass eine Weiterentwicklung zu einer kommunistischen Gesellschaft moeglich ist, in der die Herrschaft von Menschen ueber Menschen aufgehoben ist, die sozialen Klassen verschwunden sind, ein der Gesellschaft als Zwangsapparat gegenuebertretender Staat nicht mehr existiert und jeder Mensch realisieren kann, was heute ein Traum ist:  frei, nach eigenem Ermessen, gemaess seiner Individualitaet und seinen Beduerfnissen zu leben.

Dieser Traum ist uralt. In jeder Religion gibt es Bilder, die ihn ausdruecken. Bis in unsere Zeit haben die Religionen recht darin, diese Bilder in ein fiktives Jenseits zu verlegen, in ein vermeintliches Leben nach dem Tod oder ins Reich eines "Geistes", der sich vom Materiellen emanzipiert. Die Religionen haben insofern recht, als der Traum in der bisherigen menschlichen Geschichte nicht realisierbar war, weil die notwendigen materiellen Mittel nicht vorhanden waren und auch nicht einfach mittels blossen Wollens erzeugt werden konnten.

An diesen Mitteln, den materiellen Ressourcen, der Groesse des gesellschaftlichen Reichtums haengt die Erfuellung der Ursehnsucht der Menschen nach dem "Paradies auf Erden". dessen imaginaere Verlegung in ein Jenseits durch die Religionen nur ein Notbehelf ist. Es ist das historische Verdienst des Kapitalismus, die Reichtumsquellen so weit entwickelt zu haben, dass die Verlegung des Traums ins Diesseits, die wirkliche Realisierung dieses Traums, in historisch greifbare Naehe gerueckt ist. Maschinen, die Nutzung chemischer Prozesse, die Informatik vertausendfachen den Wirkungsgrad der Arbeit.

In den entwickeltsten Gesellschaften waere es heute schon moeglich, die notwendige Arbeit in einem solchen Mass zu reduzieren, dass die "Freizeit", die Zeit in eigener Verfuehung eines jeden, schon weit ueberwiegen koennte. Mit einer vernuenftigen Organisation von Produktion, Verteilung und Konsum waeren Wochenarbeitszeiten in der Groessenordnung von zwanzig Stunden moeglich. In diesen entwickeltsten Gesellschaften stehen zwischen einer Realisierung des Traums in bereits bedeutendem Umfang nur noch die, vom Standpunkt der gesamten Gesellschaft gesehen, unsinnigen kapitalistischen Herrschafts- und Eigentumsverhaeltnisse.

Die erste Welle von Versuchen, diese Verhaeltnisse zu ueberwinden, die sozialistischen Staaten des 20. Jahrhunderts, hatten noch eine ganz andere Ausgangsbasis und damit einen ganz anderen Inhalt. In ihnen ging es vorrangig noch darum, die materiellen Bedingungen fuer den Uebergang zum Kommunismus zu schaffen. Hundert Jahre spaeter sind diese Bedingungen in den entwickeltsten Regionen bereits vorhanden.

Darin liegt die Zukunft, einschliesslich der Herstellung eines Mensch-Naturverhältnisses, das vernünftig und planvoll gestaltet wird. Die Rückentwicklung des Menschen zu einem blossen Teil der Natur ist eine reaktionäre Fiktion. Ein geniales Bild von der Zukunft hat die christliche Mythologie geschaffen: die Verwandlung der Erde in einen "Garten Eden". Ein Garten gedeiht nur, wenn der Gärtner die Bedürfnisse der Lebensformen, die er hegt und pflegt, kennt und ihnen gerecht wird. Der Respekt vor allen anderen Formen des Lebens erwächst nicht aus einer abstrakten Moral, sondern aus dem wohlverstandenen eigenen Nutzen; - der Mensch nicht als Schädling in der Natur, sondern ihr Gärtner.

 

Sepp Aigner

2003

Veröffentlicht in Kultur und Gesellschaft

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