Marinaleda, ein sozialistisches Dorf in Andalusien

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Voriges Jahr ungefaehr um diese Zeit habe ich Marinaleda besucht und danach den folgenden Artikel geschrieben. Er handelt von einem erstaunlichen Dorf in Andalusien, einem Asterix-Obelix-Dorf sozusagen, in dem Menschen dem alles verschlingenden Geldwahn ein Leben entgegensetzen, in dem "Geld nicht alles" ist. Das ist dort tatsaechlich ein gefluegeltes Wort, ein Alltagsspruch, der nicht nur einen Traum auf den Punkt bringt, sondern das wirkliche Leben in Marinaleda. Der Unterschied zum gallischen Comic-Dorf ist: In Marinaleda wird nicht ein letzter Rest alter, untergehender Verhaeltnisse verteidigt, sondern da ist ein Keim fuer eine moegliche Zukunft gelegt. In Marinaleda lebt es sich besser als irgendwo sonst auf dem Land in Andalusien, weil dort "Geld nicht alles" ist.

 

Hier stehen meine Eindruecke vom vergangenen Sommer:

 

Marinaleda, ein erstaunliches Dorf in Andalusien

 

 

Zufaellig zappte ich ueber TVE 2, als eine Dokumentation ueber Marinaleda lief. Ich blieb haengen, war fasziniert, las nach, was es im Internet darueber gibt. Das war im Juni 2009. Anfang August schaute ich mir das Dorf selber an. Hier ist der Bericht.

Was ist das Besondere an Marinaleda ? - Seine Bewohner arbeiten in demokratisch organisierten Genossenschaften, und entsprechend soll es auch im Dorf selbst zugehen. Es soll sich dort anders, besser, freier, solidarischer leben. So behauptete die Doku und steht es im Internet. Ich war skeptisch. Kann denn so etwas gehen, mitten im Kapitalismus der neoliberalen Reformen ?

 

Annaeherung

 

Nach kleinen zwei Stunden Flug von Palma nach Malaga und hundert Kilometern mit dem Bus war in Estapa Endstation. Der Ueberlandbus fuhr nach Sevilla weiter. Busverbindungen zwischen den Doerfern sind aehnlich selten wie auf Mallorca. Weiter ging es nur noch mit dem Taxi.

 

Ich war mitten in Andalusien, auf dem flachen Land. Die Doerfer liegen, alle zehn Kilometer eins, verstreut zwischen Olivenplantagen und endlosen Feldern. Rote, fruchtbare Erde liegt nackt da, schon umgepfluegt nach der Getreideernte. Auf den steinigen Flaechen, weisslich-sandigem Boden, hat man Oliven gepflanzt, Abertausende in Reih und Glied und Zeile neben Zeile. Der Bus hatte nach Malaga eine steile Huegelkette gequert. Marinaleda liegt an ihrem jenseitigen Fuss. Das Land ist noch nicht eben, wie weiter noerdlich zum Tal des Gualdalquivir, nach Sevilla hin. Aber die Huegel verlaufen sich schon in weiten Schwuengen, sind schon mehr schraeggestellte Ebenen, auf- und absteigend.

 

Von dem Staedtchen Estapa nach Marinaleda sind es acht Kilometer. Der Taxifahrer avisierte mich telefonisch Antonio, meinem Zimmerwirt. Der steht schon vor der Haustuer, als wir vorfahren. Er begruesst mich freundlich, mustert mich verstohlen - was ist das fuer ein Spinner, ein deutscher natuerlich, der sich von Mallorca nach Andalusien verirrt, im heissen August ?

 

Antonio vermietet drei Zimmerchen in seinem Dorfhaus, das Einzelzimmer fuer 15 Euro die Nacht, die Doppelzimmer fuer 25. Fuer alle drei zusammen gibt es nur ein Badezimmer. Bett, Schrank, Nachttischchen, ein Stuhl, ein Ventilator, keine Klimaanlage, kein Kuehlschrank, kein Fernseher, kein Internetanschluss - natuerlich nicht, bei dem Preis. Aber alles ist sauber und irgendwie adrett hergerichtet. Ich hatte ohnehin keine Wahl. Antonio ist der einzige, der ueberaupt privat vermietet. Eine Pension oder gar ein Hotel gibt es nicht. So muss es auf Mallorca vor vierzig Jahren gewesen sein.

 

Da war ich also. Es war Sonntag, spaeter Nachmittag, die Hitze flirrte ueber der Dorfstrasse, der Ort schien wie ausgestorben. Eine Dusche, frische Kleidung. Und was jetzt ? Irgendwo was trinken, was Eisgekuehltes.

 

Die Dorfstrasse faellt ganz leicht nach Norden hin ab. Das Dorf ist ziemlich lang, zwei Kilometer vielleicht, Haus an Haus gebaut, alles huebsch in Schuss, weiss gekalkte Fassaden, viele Fenster und Tueren ockergelb umrahmt. Maralineda war wohl urspruenglich ein Strassendorf und bauchte im Lauf der Zeit ein wenig aus, zwei, drei Wohnstrassen tief diesseits und jenseits der Hauptstrasse.

 

Ich ging das Dorf runter und wieder rauf. Es gab Kneipen. Aber sie waren geschlossen. Die Hitze flirrte. Die Zunge klebte am Gaumen. Ich hatte es schon immer geahnt: Irgendwo wuerde mir meine unstillbare Sucht nach Neuem zum Verhaengnis werden. Das war es also: Hitzschlag in einem andalusischen Bauernkaff, Verdursten auf einer oeden Dorfstrasse, die irgendwelche Witzbolde Avenida de la Paz benannt haben.

 

Am oberen Ende des Dorfes liegt ein Park. Wenigstens Schatten unter schoenen Baeumen, eine Parkbank, was fuer ein Luxus. Von gegenueber wehen Geraeusche - Stimmen, Kindergeschrei. Es gibt hier also doch Leute ? Da muss ich hin.

 

Ein Schwimmbad - und dazu eine Kneipe ! Gerettet ! Wasser, bitte, und viel Eis !

Da waren sie also, die Marinaledanesen, in ihrem Schwimmbad. Zwei Fuenfzigmeterbecken, eins fuer Schwimmer, eins fuer Nichtschwimmer, darum herum ueppig Rasen, baumbeschattet, nicht uebel fuer so ein Kaff mit 2650 Einwohnern. Dass ich dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen bin, stimmt mich versoehnlicher. Aber alles in allem bin ich schon ein wenig enttaeuscht, oder vielmehr in meiner Skepsis bestaetigt. Das Dorf ist ja ganz proper, das Schwimmbad erstaunlich, dass sich die nach katholischen Heiligen benannten Strassennamen mit solchen wie Salvador-Allende-Strasse, Che-Guevara-Strasse, 1. Mai-Platz, Pablo-Neruda-Strasse mischen - ganz nett. Am unteren Ende des Dofes steht ein aelteres Gebaeude, das als Haus der Landarbeitergewerkschaft und Kulturhaus ausgewiesen ist, an seinem Giebel ein Fliesenemblem: Faust mit Sichel, am Ortseingang eine Stelltafel: Marinaleda - Utopia hacia la Paz. Aber wenn das alles ist, sind die Berichte uebertrieben. Ein Bauerndorf mit ein paar linken Parolen und einem schoenen grossen Freibad - dafuer muss man nicht unbedingt tausend Kilometer weit reisen.

 

Gibt es in der Schwimmbadkneipe was zu essen ? Schon, sagt die strenge Frau hinter der Theke, aber heute ist schon alles weg. Wenn am Ende eines Wortes ein S steht, laesst sie es weg, die Ds mitten im Wort auch, manche Nasal-Laute lassen schon das Portugiesische anklingen.

 

Ich bin zu muede, um mir woanders ein Abendessen zu suchen. Ich geh ins Bett. Das Schnurren des Ventilators ist ein wirksames Schlafliedchen. Mag sein, dass mein letzter Gedanke war: Ach, Mallorca ist doch schoener.

 

Geschichtliches

 

Seit jeher war die Gegend, in der Marinaleda liegt, ein Land der Grossgrundbesitzer. Ihre Landarbeiter fuehrten ein erbaermliches Leben, pendelten zwischen Saisonarbeit zu schaendlichen Loehnen und Arbeitslosigkeit. Die Granden besassen (und besitzen weithin immer noch) nicht nur das Land, sondern auch das Wasser. In Marinaleda war bis in die 1980er Jahre hinein selbst das Trinkwasser knapp und von schlechter Qualitaet. Und die Granden waren nicht bloss reich, sondern sie setzten ihren Reichtum auch in politische Vorherrschaft um. Selbst eine aerztliche Krankmeldung musste vom Gutsbesitzer gegengezeichnet werden, und wer dessen Unterschrift fuer den Antrag auf Stempelgeld nicht erhielt, erhielt auch kein Stempelgeld. Hunger und Analphabetismus waren gewoehnlich. Unter den Alten gibt es heute noch viele, die nicht lesen und schreiben koennen.

 

In den 1930er Jahren, den Jahren der II. Republik, schoepfte die Landarbeiterbewegung Mut. Den Granden den Boden wegzunehmen und ihn endlich auf eigene Rechnung zu bearbeiten, schien eine realistische Perspektive zu werden. Dann putschte Franco, versank Spanien im Buergerkrieg, und das Falange-Regime zementierte noch einmal fuer vier Jahrzehnte die alten Verhaeltnisse.

 

Aber die Menschen vergassen ihre alte Parole "Land - Arbeit - Brot - Freiheit" nicht. Als Franco endlich starb und das Regime am Ende war, standen sie erneut auf. Die ganze Region wurde unruhig, und am radikalsten und zielstrebigsten waren die Leute in Marinaleda. Dem Duque das Land und das Wasser wegnehmen, sich genossenschaftlich zusammenschliessen, endlich auf eigene Rechnung arbeiten und besser leben, die klientelistische Abhaengigkeit vom Grundherrn endlich abschuetteln: Dafuer demonstrierten sie in Sevilla und selbst in Madrid, vor der Moncloa, dem Sitz des Ministerpraesidenten. Man hielt sie hin. Man hoffte, die Bewegung werde sich im Lauf der Jahre schon totlaufen.

Aber 1979 gab es die ersten freien Kommunalwahlen, und in Marinaleda siegte die Linke haushoch. Gordillo, ein Lehrer, der zum Anfuehrer der Landarbeiter geworden war, wurde Buergermeister. 1984 wollten sich die Leute nicht laenger hinhalten lassen und traten in einen unbefristeten Hungerstreik - 700 Menschen von den damals 1800 Einwohnern. Sie streikten zwoelf Tage lang. Dann waren die ersten 280 Hektar Land ertrotzt. Die Regierung zahlte den Duque aus, der nun auch sein Wassermonopol aufgeben musste. Wenig spaeter waren weitere 1200 Hektar erkaempft. - Marinaleda hatte endlich Land und Zugang zum Wasser. Man gruendete Genossenschaften, schaffte die ersten Traktoren an, pflanzte und saete - und erntete nun selbst. Der Grundherr hatte im Dorf nichts mehr zu sagen. - "Land, Arbeit, Brot, Freiheit".

 

Gegenwart

 

In den zwei Wochen meines Aufenthalts stellte sich heraus, dass mein erster

Eindruck falsch gewesen war. Marinaleda ist kein gewoehnliches andalusisches Dorf. Allmaehlich erschloss sich mir, was in dreissig Jahren harter Arbeit erreicht worden ist. Die Ertraege der Genossenschaften, die so heroische Namen tragen wie "Camilo Cienfuegos" (nach einem der Anfuehrer der kubanischen Revolution), "Tierra,Trabajo y Libertad", "Domingo Rojo", "Los Jornaleros" ("Die Tageloehner" - eine ironische Anspielung auf die Vergangenheit), ermoeglichten soziale Einrichtungen und ein soziales Klima, die weit und breit - und vielleicht in ganz Spanien - einmalig sind.

 

Das Marinaleda von heute hat Kindergarten und -krippe - Oeffnungszeiten: von 7.30 Uhr bis 21.30 Uhr. Die Eltern zahlen pro Kind, zwei Mahlzeiten eingeschlossen, 80 Euro im Monat. Ein Schulzentrum verfuegt ueber Vorschule, Primar- und Sekundarstufe. Fuer die Rentner gibt es zwei Tagesheime, in denen auch, zu billigsten Preisen, gegessen werden kann. Im neuen Kulturhaus kann man im Internet surfen, Theater spielen oder musizieren - alles kostenlos -, ein TV-Studio produziert dorfeigenes Fernsehen. Die Fussballer haben ein eigenes Vereinsheim, und zum Rasenplatz kommt gerade ein zweiter mit Kunstrasen. Im gemeinde-eigenen Gimnasio koennen sich die Leute ertuechtigen, unter fachkundiger Anleitung, von der Seniorengymnastik ueber asiatische Kampfsportarten bis zu Bodybuilding - alles kostenlos oder zu symbolischen Preisen. Die Schwimmbadbenutzung kostet fuer die Einheimischen 3 Euro (fuer Kinder 2.50 Euro) - im Jahr. Fuer Wasser werden monatlich pro Haushalt 7,50 Euro berechnet. Die Muellabfuhr kostet 15 Euro - im Jahr.

 

Man hat sich einen mehrere Hektar grossen Park geleistet, der eines der Zentren des oeffentlichen Lebens ist. Er liegt uebrigens nicht am Rand des Dorfes, wie ich am ersten Tag gemeint hatte, sondern verbindet das alte Dorf mit den neuen Vierteln. Abends, so ab Neun, lustwandelt man unter Alleen und zwischen Rabatten, an riesigen Beeten mit duftenden Rosen vorbei, ruht auf den Baenken rund um die beiden Springbrunnen, die Verliebten turteln in den verschwiegenen Winkeln, die Teenager gackern und kreischen, eine Sportlergruppe schindet sich, Damen mittleren Alters marschieren forschen Schritts ihre ueberfluessigen Pfunde weg. Mitten drin gibt es ein Amphitheater, in dem notfalls die ganze Dorfbevoelkerung Platz haette, mit einer Buehne, gross genug fuer ein Symphonieorchester. Dreimal die Woche gibt es hier Freilichtkino, sechsmal im Jahr grosse Kulturveranstaltungen - alles kostenlos. Die kommunistische Jugend versorgt, ehrenamtlich, mit kleinen Gerichten und Getraenken. Alles kostet der Einfachheit halber einen Euro - z.B. ein Bocadillo mit Huehnchen -, so dass eine Familie mit zwei Kindern hier ein Abendessen fuer acht Euro einnehmen kann, Getraenke und eine Spende fuer die sahaurische Befreiungsfront inklusiv.

 

Die 15-Euro-Haeuser

 

Das ist alles beeindruckend, aber das Herz der sozialen Entwicklung in Marinaleda ist der kommuale Wohnungsbau. Der geht so: Die Gemeinde stellt eine Parzelle zur Verfuegung, zahlt das Baumaterial und die gesetzlich vorgeschriebene Facharbeit. Die Haeuslebauer muessen die Hilfsarbeiten selber leisten oder dafuer Peones bezahlen. Das kostet im Durchschnitt 28 000 Euro. Dann sind die Haeuslebauer Innhaber eines 100-Quadratmeter-Haueschens und eines ungefaehr ebensogrossen ummauerten Hofes. Die Haueser koennen an die Kinder weitergegeben werden. Die einzige Einschraenkung ist: Vermieten oder verkaufen geht nicht. Eigentuemer bleibt die Gemeinde. Damit ist jeder Spekulation der Boden entzogen. Die "Miete" betraegt 15 Euro im Monat. Sie war ursprueeglich nicht vorgesehen. Die Haeuslebauer haben die Abgabe selbst beschlossen. Damit koennen naemlich, ueber das gemeindliche Bau-Budget hinaus, pro Jahr die Materialkosten fuer ein zusaetzliches Haus aufgebracht werden.

 

Die Zahl dieser Haeuser geht jetzt auf die 300 zu. Ungefaehr ein Viertel der Dorfbevoelkerung lebt bereits in diesen Haeusern - Menschen, die vor dreissig Jahren das Wasser noch mit dem Eimer vom oeffentlichen Reservoir in ihre tristen Quartiere geschleppt haben.

Das ist der groesste Kontrast zu unserer schoenen "Sonneninsel". Auf Mallorca schlaegt fuer die Menschen, die sich aus eigener Kraft Wohneigentum schaffen wollen, die monatliche Belastung dafuer mit einem Drittel, und nicht selten mit der Haelfte, des Familieneinkommens zu Buch, muessen ueber Jahrzehnte die Hypothekenschulden abgestottert werden. Entweder hat ein Alleinverdiener ein aussergewoehnlich gutes Gehalt oder er muss 60 Stunden in der Woche arbeiten, oder eines von zwei Gehaeltern geht fuer die Hypothek drauf. Miete zu zahlen kommt nicht sehr viel billiger. Ein Karriereknick, gar Arbeitslosigkeit wird schnell zur Katastrophe, wenn man sich bis zur Halskrause verschulden muss. So ist es, wenn Boden und Immobilien eine Ware sind wie jede andere.

 

In Marinaleda ist das nicht so. Der verdiente Lohn kann wirklich fuer das taegliche Leben ausgegeben werden. 32,5 Stunden Arbeit pro Woche in den Genossenchaften Maraniledas bringen einen Monatslohn von 1 200 Euro. Da sie kaum Wohnkosten haben, ist damit fuer die Leute, die ganzjaehrig Arbeit haben, eine Familie ernaehrt, und in den Haushalten mit zwei Verdienern geht es sogar recht auskoemmlich zu.

 

Keine Idylle

 

Das Dorf ist natuerlich keine autonome Insel. In der ganzen Gegend ist die Arbeitslosigkeit hoch, und auch in Marinaleda haben nicht alle eine ganzjaehrige Beschaeftigung. Die Erzeugnisse der Genossenschaften muessen zu den selben, viel zu niedrigen, Preisen abgesetzt werden, wie das jeder Erzeuger tun muss. Es muss mechanisiert - d.h. Arbeit eingespart - werden, damit die Betriebe konkurrenzfaehig bleiben. Die Haushaltslage der Gemeinde ist angespannt. Die Erfolge von gestern und heute sind nicht gesichert, weil sie von wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen abhaengen, auf die die Marinaledanesen keinen Einfluss haben.

 

Mit der Arbeitslosigkeit geht man allerdings anders um als anderswo. Man teilt sie sich. Wer keinen Ganzjahresvertrag hat, bekommt einen Viermonatsvertrag. Dann muss er sich zwei Monate lang arbeitslos melden. Danach gibt es wieder einen Vetrag, usw. . So faellt niemand aus den Leistungen der Arbeitslosenversicherung, und die mageren Arbeitslosenmonate - 450 Euro Stempelgeld - werden einigermassen gleichmaessig auf alle verteilt. So kommt jeder auf ein Jahreseinkommen von ungefaehr 10 000 Euro. Ohne Wohnungskosten reicht das selbst fuer Familien mit nur einem Einkommen zu einem bescheidenen, aber doch menschenwuerdigen Leben.

 

Ein zweiter ausgleichender Faktor ist, dass die Lohnspreizung gering ist. Es gibt keine Hungerloehne, aber auch keine Spitzengehaelter. Wer fuer eine Genossenschaft arbeitet, kriegt nicht weniger als 1 200 Euro im Monat, aber auch nicht mehr als 1 400 - der companero Direktor eingeschlossen.

 

Ein Teil der Feldkulturen wird nicht des Gewinns wegen angebaut, sondern um Loehne zu generieren. Zur Zeit produziert man zum Beispiel viel Paprika. Das ist nicht wirklich ein Geschaeft. Die Produktion ist gerade knapp kostendeckend. Sie ist arbeitsintensiv und kann schlecht mechanisiert werden. Paprika bringt zwar keinen Gewinn, aber eine Menge Leute erwirtschaften damit ihren Lohn.

 

Dorfpolitik

 

Natuerlich gelten in Marinaleda die gleichen Gesetze wie im uebrigen Spanien. So werden zum Beispiel in ordentlichen geheimen, freien und gleichen Wahlen der Buergermeister und der Gemeinderat gewaehlt - mit dem regelmaessigen Ergebnis von 60 bis 70 Prozent fuer die Izquierda Unida, ein paar Sitzen fuer die Sozialdemokraten und gewoehnlich keinem einzigen fuer die PP. Gordillo, der Buergermeister, der 1979 zum ersten mal gewaehlt wurde, wurde seither bei allen Wahlen - zuletzt 2007 - mit haushohem Vorsprung im Amt bestaetigt. - Soweit funktioniert die parlamentarische Demokratie, wie anderswo auch, bloss mit eher ungewoehnlichen Mehrheitsverhaeltnissen.

 

Aber es ist halt vieles Auslegungssache. In Marinaleda gibt es eine zweite Ebene, die ueber die Waehlerei alle vier Jahre weit hinausgeht. Jedes Dorf-Viertel hat eine Asamblea und fuer das ganze Dorf gibt es die General-Asamblea. Diese Versammlungen tagen vierteljaehrlich. Die Gemeindeverwaltung muss vor ihnen Rechenschaft ab- und die Einnahmen und Ausgaben offenlegen. Aehnlich ist es in den Genossenschaften. Die wichtigen Entscheidungen treffen diese Asambleas. Die Beschluesse sind zwar, der Rechtslage nach, fuer den Buergermeister und den Gemeinderat nicht bindend. Aber wer bei den naechsten allgemeinen Wahlen wiedergewaehlt werden moechte, haelt sich besser an sie.

 

Die politischen Parteien spielen, jedenfalls oeffentlich sichtbar, keine grosse Rolle. Da und dort haengen Plakate der IU, ab und an verteilen die Sozialdemokraten ein Flugblatt, rechte Propaganda ist nirgends zu sehen. Von der kommunistischen Partei, die in der IU immerhin die Mehrheit stellt, ist auch nichts zu sehen, ausser ein paar Graffities des Jugendverbands. Irgendwie muessen die Parteien schon sein. Aber die entscheidende Rolle spielt die direkte Demokratie im Dorf, ueber die Asambleas und ueber Aktionsgruppen von Freiwilligen, die sich ehrenamtlich bestimmten oeffentlichen Aufgaben widmen. Da gibt es das TV-Team, das Kino-Team, Gruppen, die sich um alleinstehende alte Leute kuemmern, um Leute mit Drogenproblemen usw. . . Einmal im Monat kommen die, die Zeit und Lust haben, zum "Domingo Rojo" zusammen. Hundert, hundertfuenfzig Leute entkrauten Beete, tuenchen die Fassade eines oeffentlichen Gebaeudes, schaffen Muell weg, der sich in irgendwelchen Ecken gesammelt hat - was eben so anfaellt. Mittags ist es genug, und man nimmt gemeinsam im Gewerkschaftshaus die Mahlzeit ein, die freiwillige Koeche mittlerweile zubereitet haben. - Ohne diesen Buergersinn, diese ehrenamtliche Arbeit koennte die Gemeinde unmoeglich den Umfang ihrer sozialen und kulturellen Leistungen erbringen.

"Geld ist nicht alles." Diesen Satz hoert man oft. Er ist fast ein Wahlspruch. Er spiegelt ein Stueck Wirklichkeit. - In Marinaleda dreht sich wirklich nicht alles um Geld. In den Genossenschaft ist die Achse des Wirtschaftens nicht der Gewinn, sondern der Lohn. Im Dorfleben haengt das soziale Ansehen nicht am dicksten Auto und protzigsten Haus, sondern an rechtschaffener Arbeit und taetigem Gemeinsinn. Man moechte es kaum glauben. Aber das gibt es. Ich habe es selbst gesehen und ein wenig davon erspuert.

 

Abschied

 

In zwei Wochen Marinaleda war meine Skepsis geschmolzen und mein Gemuetszustand bedenklich nah an Euphorie. Antonio, ein anderer Antonio, einer von denen, die "von Anfang an dabei waren", daempft sie. "Weisst du", sagt er, "es ist leichter, etwas zu erkaempfen, als es zu bewahren. Jetzt, wo es uns viel besser geht, gibt es schon einen gewissen Rueckzug ins Private, eine gewisse Laschheit. Frueher haben wir auf den Asambleas halbe Naechte lang diskutiert und gestritten. Heute geht das in ein, zwei Stuendchen ab und dann gehen alle ins Schwimmbad."

 

Im "neuen Marinaleda", in den Vierteln mit den 15-Euro-Haeusern, geht ein Eingang nach hinten in den eigenen Hof, ins Private, zum eigenen Gemuesegaertchen, zum Gehege mit den Stallhasen, zum Grill. Nach vorne hinaus geht es auf die Wohnstrasse, den kleinen Platz, der vielleicht nach Marquez benannt ist, in die Nachbarschaft und Dorfoeffentlichkeit. Welcher Hauseingang der wichtigere wird - daran wird sich das weitere Schicksal Marinaledas entscheiden, so weit es ueberhaupt von seinen Buergern entschieden werden kann. Die, die aufgebaut haben, sind heute fuenfzig Jahre alt oder aelter. Sie halten den Geist am Leben, mit dem sie das Dorf zu dem gemacht haben, was es ist. Sie werden das Heft noch ein oder zwei Jahrzehnte in der Hand haben. Eine engagierte Jugend ist nachgewachsen. Ich kann nicht einschaetzen, wie viele es sind. An den Jungen haengt, ob sie bewahren und weiterentwickeln koennen, was die Aelteren erkaempft und erarbeitet haben.

 

Ich verlasse Marinaleda mit dem Gefuehl, wiederkommen zu wollen. Ein Touristenort ist das Dorf zwar nicht. Fremde werden freundlich behandelt, aber durchaus nicht mit ueberschwenglicher Freundlichkeit, und schon gar nicht mit der geschaeftstuechtigen Freundlichkeit, die der Tourismus hervorbringt. Es gibt kein Spezialitaetenlokal, keine organisierten Ausfluege, keine kulturhistorischen Sehenswuerdigkeiten. Man kann ueber die Felder traben und sich in den endlosen Olivenhainen ergehen, die oeffentlichen Einrichtungen des Dorfes mitbenutzen. Das ist alles.

 

Kleine zwei Stunden Flug, und Palma hat mich wieder. In Marinaleda, in der Schwimmbadkneipe, habe ich fuer 2,80 zu Mittag gegessen, Bier und Kaffe inklusive. Ich trinke ein Bier und einen Cortado in Palma, auf der Plaza Mayor - 3,20 Euro. Alles ist wieder in Ordnung. Wer wird denn von einem anderen Leben traeumen, da unten im Sueden, da wo alles noch billig und gut und einfach ist ?

 

 

 

 

Veröffentlicht in Spanien

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G
<br /> Zur Sache: Geld ist entweder "alles" (mit drei Ausrufezeichen), oder es ist nix wert. Sie sollen trotzdem hochleben und schauen, dass ihre Frauen das Kochen nicht verlernen.<br />
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S
<br /> <br /> Im Gewerkschaftshaus, in der Freibad-Kneipe und an der Futterstelle des Parks hab ich sogar MÄNNER kochen gesehen !<br /> <br /> <br /> <br />
G
<br /> Für's An-den-Ohren-Ziehen oder ihre Paprika-Gerichte?<br />
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S
<br /> <br /> Für beides.<br /> <br /> <br /> <br />
G
<br /> Ich sag's ja immer: glaubwürdiger Lifestyle zieht!<br />
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S
<br /> <br /> Wenn das ein Marineladenese liest, dann lass Dich dort bloss nicht blicken. Die packen Dich an den Ohren. Oder sie servieren Dir ein Paprikagericht, das Dir den Dampf aus den Ohren treibt.<br />  Das gehört zu ihrem Lifestyle. Die Marinaledanesinnen sind dafür besonders berüchtigt.<br /> <br /> <br /> <br />
K
<br />  <br /> <br /> <br /> Woanders zum Thema gelesen:<br /> <br /> <br /> http://www.neues-deutschland.de/artikel/227970.gelebte-utopie.html<br />
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S
<br /> <br /> Ja, ich hab den ND-Artikel irgendwo verlinkt. Er ist offenbar "auf die Schnelle" geschrieben und enthält ein paar schiefe Informationen.<br /> <br /> <br /> <br />
A
<br /> <br /> hey ich würde gern nach marinaleda fahren und hätte gern gewusst wie man mit antonio kontakt aufnehmen kann und wie man halt generel dort übernachten kann!! danke im voraus !!! :)))))<br /> <br /> <br /> <br />
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S
<br /> <br /> Hallo Anastasia. Bei mir ist das zwei Jahre her und ich hab weder Telefon-Nr. noch Adresse noch Antonios Nachnahmen. Wenn Du Spanisch kannst, ist das Problem aber leicht zu lösen. Ruf einfach bei<br /> der Gemeinde an und frag nach "Antonio, dem Schneider". Er ist der einzige (war es zumindest vor zwei Jahren), der im Dorf überhaupt vermietet - 2 Einzelzimmer und ein Doppelzimmer, ganz<br /> ordentliches Bad, allerdings nur eins für alle drei Zimmer zusammen, Einzelzimmer damals 15 Euro. Kein Frühstück, aber ein paarhundert Meter von seinem Haus die Dorfstrasse runter (Avenida de la<br /> Paz, wenn ich mich richtig erinnere) gibts mehrere Bars. Null Sehenswürdigkeiten, einfach bloss Dorfleben. Was los ist im Schwimmbad und am Abend, so ab 21 Uhr im Park. Im Kulturhaus, das direkt<br /> neben der Gemeindeverwaltung steht, gibts kostenlos Internet. Mit Essen darfst Du nicht allzu anspruchsvoll sein. In den Bars wird man satt, aber es ist nicht gerade Nouvelle Cuisine. Mit dem<br /> Überlandbus kommt man irgendwie schon nach Marinaleda, von Valencia her. Von Malaga her muss man in einem Kaff aussteigen, dessen Namen ich vergesen habe (steht vielleicht in meinem Artikel<br /> ?)(Estapa oder so ähnlich), und ungefähr 8 Kilometer mit dem Taxi fahren. Bei Antonio schräg gegenüber gibts einen Tante-Emma-Laden, ich glaub, es ist der einzige im Dorf. Am Dorfrand, schon ein<br /> wenig ausserhalb Richtung Valencia gibt es ein gutes und preiswertes Restaurant (obwohkl es von aussen eher teuer aussieht), in dem man ganz ordentlich essen kann, das aber nicht immer geöffnet<br /> hat(te). Nach vorne hinaus ist es bei Antonio ziemlich laut, weil das Haus direkt an der Hauptstrasse steht.<br /> <br /> <br />  <br /> <br /> <br />  <br /> <br /> <br /> <br />