Briefe aus Frankreich, Nr. 4

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Alexandra hat ihren vierten Brief für dieses Blog geschrieben. (Die vorausgegangenen stehen hier: http://kritische-massen.over-blog.de/categorie-12094690.html ) Hier der Text.

 

Einen guten Tag allen im stärksten Lande Europas !

 

Frankreich hat Schulden, Ende März des Jahres wies INSEE 1646,1 Mrd Euro aus, was 84,5 % des Bruttoinlandproduktes ausmacht. Frau Le Pen vom Front National weiß das auch. Deshalb fabulierte sie in den Abendnachrichten von TF1 am 17. Oktober: „Frankreich ist ein armes Land. Das ist am ständigen Fallen der Löhne zu sehen. Frankreich kann nicht bezahlen für die Länder des Südens." Dies und ähnliches brachte selbst die gestandene Moderatorin zum Schweigen. Nicht so aber Frau Le Pen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem sie sich und ihre faschistische Partei nicht öffentlich ins Licht setzt. Der Medienrat (Conseil Supérieur de l’Audiovisuel ) achtet „sorgsam" auf die demokratische Gleichstellung der Parteien und Organisationen. Zugrunde gelegt werden soll dabei proportional das Abschneiden bei vorhergegangenen Wahlen, was uns den häufigen Anblick besagter Dame verschaffe.

 

Frankreichs Präsident hatte übrigens (in einem Anfall von „Volksverbundenheit"?) 2009 veranlasst, dass die börsennotierten Konzerne bei Gewinnausschüttung auch ihren Beschäftigten eine Prämie geben möchten. Immerhin zahlen von den 40 großen Firmen 25. Für die Hälfte der Beschäftigten genannter Firmen (etwa 700 000) könnte im November eine Prämie in Höhe von durchschnittlich 350¬ ins Haus stehen, das sind für den weitaus größten Teil aber nur 100¬ oder weniger, die Société Générale will ihren kleinen Mitarbeitern immerhin 600¬ zugestehen.

 

Andere Firmen nutzen den Berechnungsmodus und zahlen nichts. Total allein meldet 103 Mrd Gewinn, gibt aber keinen Cent. Das betrifft ebenfalls France Telekom und EDF, alles Firmen mit ohnehin niedrig belohnten Beschäftigten. »Die Gewinne der Champions sind in der Tat 2010 um 80% gestiegen. Sofort also werden die Gewinnausschüttungen dieses Jahr um 13% auf 39,7 Milliarden Euro steigen. Das ist ganz nah am historischen Rekord von 2008." (La Tribune, 03.05.11)

 

Frankreich ist ein armes Land.

 

Zielsetzung von Marine Le Pen ist die feste Installierung der extremen Rechten in die politische Landschaft. Zur Präsidentenwahl 2012 will sie „die Kandidatin der Rechten" im zweiten Wahlgang sein. Gleichzeitig werden Abgeordnetenplätze fürs Parlament anvisiert. Le Pen rechnet mit dem Ausscheiden Sarkozys und sieht sich bereits im Angesicht von François Hollande (PS), den sie allerdings als „siamesischen Zwilling Sarkozys" bezeichnet. Anvisiert ist eine Opposition zur PS, um sich eine aussichtsreiche Position für die Wahlen 2017 zu verschaffen. Die FN geht davon aus, dass die von den Konservativen als Linke bezeichnete Parti Socialiste 2012 gewinnen und die Arbeiter- und Volksschichten gründlich enttäuschen wird.

 

Die Vereinigung der Kommunistischen Kreise (RCC) hat diese kreuzgefährliche Situation für die Arbeiter- und Volksbewegung Frankreichs hervorgehoben. Unter dieser Bedrohung setzt der RCC alle seine Kräfte für den „Front de Gauche" ein. Er kann, wenn auch nicht gewinnen, so doch eine starke und dynamische linke Opposition an der Seite der Sozialdemokratie an der Macht stellen. Also geht es schlicht darum, dem FN auf politischem und sozialen Gebiet keinen Raum zu lassen. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit, zu dem alle progressiven Kräfte aufgerufen sind, um die Ausbreitung der schwarzen faschistischen Gefahr zu verhindern.

 

Ein halbes Jahrhundert in relativ sozialer Sicherheit mit guten Verdienstmöglichkeiten, einer bisher für viele gesicherten Ausbildung ihrer Kinder und für viele die gefühlte Möglichkeit der demokratischen Mitbestimmung haben die Menschen gutgläubig gegenüber dem System der bürgerlichen Demokratie gemacht. Den Faschismus haben die meisten nicht mehr erlebt. In den Schulen wird er kleingeredet und steht zunehmend das „totalitäre System" der sozialistischen Staaten im Vordergrund. Deshalb ist die taktische und strategische Entscheidung des RCC vielen schwer zu vermitteln. Die zunehmende Verarmung breiter Schichten sowie der Abbau der Demokratie treiben jedoch viele auf die Straße. Das Interesse an politischer Mitbestimmung besteht. Unter dem Motto „Die Völker zuerst, nicht die Finanzen" trotzten am 01. November mehr als 10.000 friedliche Demonstranten in Cannes dem G-20-Gipfel und dem Riesenaufgebot an Polizei und Spezialkräften. (Meldung Attac France) Wenn es häufig auch nur gegen „die Banken" und „die Finanziers" geht, der Begriff Finanzkapital erscheint zunehmend. Die „Finanzen" allein verwischen die Fronten.

 

Denn auch ein Sarkozy hat sich im großen Interview am 27. 10. auf den öffentlichen Kanälen hingestellt und erklärt, sich mitunter über die Bankiers aufzuregen und es außer Frage stünde, dass der Steuerzahler deren Fehler bezahle. Macht ihn doch sympathisch, nicht? Hinsichtlich einer Mehrwert-Steuererhöhung drückt er sich verschwommen aus, plädiert aber an anderer Stelle für die Angleichung des deutschen und französischen Steuersystems, vorerst nur bei den Unternehmen (in Frankreich noch viel höher). Nur nebenbei, der allgemeine Mehrwert-Steuersatz beträgt hier momentan 19,6%. Was verspricht man in Deutschland?

 

Aber es geht schon über Wochen oder Monate, dass den Bürgern Frankreichs die verschuldete Lage des französischen Staats-Haushalts ans Herz gelegt wird. Einmal ist es die Agentur Moody’s, die „Frankreich" angreift , ein andermal sind es die „Griechen", die „Italiener" und „Spanier". Da verstehen sich Le Pen und Sarkozy und betreiben Arbeitsteilung beim Dividieren von Nationen und Völkern. Am Morgen des 27. 10. hat der „Parisien" verkündet, dass zwei Studien ernsthaft bearbeitet werden. Von einer sprach Sarkozy dann, der „Zwischensteuer", die in der Tat eine leichte Steuererhöhung bestimmter Waren bzw. Leistungen sein soll.

 

Die zweite nennt der „Parisien" eine soziale Mehrwertsteuer. Und hier erklärt man die Bevölkerung schlichtweg für dumm, denn Senkung der Arbeitskosten heißt, dass dem Lohnabhängigen in die Tasche gegriffen werden soll. Die Sozialbeiträge der „Arbeitgeber" sind seit 1990 sukzessive gesunken und damit die öffentlichen Einnahmen, vor allem die für Sozialversicherungen. Die sogenannte soziale Mehrwertsteuer bedeutet: Der „Arbeitgeber" braucht nicht mehr 5,4% der Familienbeiträge genannten Abgabe zahlen, sondern diese werden gekürzt. Ich habe übrigens nicht finden können, in welche Fonds diese (eine verdeckte Steuer offensichtlich) Beiträge eingehen. Wie auch immer, es ist ein Geschenk an die „Arbeitgeber", die hier allerdings Patrons genannt werden. (Siehe Engels Bemerkung im Vorwort zur 3. Auflage des Kapitals)

 

Bezahlen sollen den Ausgleich alle Konsumenten über eine erhöhte Mehrwertsteuer. Gehen wir davon aus, dass die Abgabe des Patrons wirklich in einen sozialen Fonds eingeht, zahlen diejenigen, die daraus notwendige Zuwendungen brauchen, einen Teil derselben jetzt selbst. Und alle werden geschröpft, damit dem Unternehmer ein Geschenk gemacht werden kann. Die „Geschenke" an die Unternehmen sind eine der großen Ursachen für das Minus in den Sozialversicherungskassen.

 

An allem Übel ist „Brüssel" schuld oder die EU. Müssen neue missliebige Maßnahmen eingeführt werden, versteckt sich die Regierung via Medien dahinter. Und das redet so mancher Bürger nach.

 

Ja, die geballte Wirtschaftskraft und damit verbundene politische Macht der europäischen Staaten ist im imperialistischen Konglomerat EU vereinigt. Es sind aber die Regierungen des jeweiligen Landes, die dort in Brüssel entscheiden und in Absprache mit den anderen Staats- und Regierungschefs im Europarat (der Vorsitzende der Europäischen Kommission hat nur beratende Stimme) weitgreifende Entscheidungen treffen. Sie sind für die einzelnen Staaten des Euro-Währungsgebietes verbindlich, die anderen Staaten können sich beteiligen. So auch formuliert im „Pakt für den Euro", einstimmig beschlossen am 11. März in Brüssel. Umgesetzt werden die Beschlüsse durch die Organe des jeweiligen Nationalstaates. Die Veröffentlichungen der französischen Medien und die Ansprache von Sarkozy dienen der Erklärung der Notwendigkeit zum Sparen – des Volkes natürlich.

 

Die Entscheidungen des Europarats, der „europäischen Wirtschaftsregierung", tangieren übrigens ein Europäisches Parlament absolut nicht. Es muss nicht gefragt werden.

 

Seitens der Volksmassen wird es deshalb ein eindeutiges Nein zum von Sarkozy signierten Pakt für eine „Stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Konvergenz" geben, denn hier geht es um Stärkung der imperialistischen Monopole und eine Angleichung der dazu notwendigen Verfahrensweisen innerhalb der einzelnen Länder europaweit. Kampf gegen das imperialistische Europa muss also zuerst und vor allem in den einzelnen Ländern stattfinden.

 

Unter Förderung der Wettbewerbsfähigkeit wird in erster Linie das Senken der „Lohnstückkosten" verstanden (Punkt a der „Paktes für den Euro"). Das wissen wir ja nun: Die Arbeit kostet zu viel. Konkret heißt das: Der Arbeiter und andere Lohnabhängige verdienen zu viel. Damit sich niemand ein Beispiel am (noch) gut bezahlten öffentlichen Dienst nimmt, muss dort zuerst gekürzt werden -unter i). Die „Produktivität" soll gesteigert werden, indem noch mehr privatisiert wird, das nennt sich „weitere Öffnung von geschützten Sektoren" –ii) Wenn ich unter b) zur „Förderung der Beschäftigung" etwas von „lebenslangem Lernen" lese, muss ich immer an die Langzeitarbeitslosen denken, die am dritten oder vierten Bewerbungsschreiben-Lehrgang teilnehmen. Bildung darf schließlich nichts kosten. Nicht fehlen dürfen Steuerreformen zugunsten der „Arbeitskosten", Rentenkürzungen – kurz: Die ganze Palette, die uns seit einiger Zeit hinlänglich bekannt ist und zu immer mehr Armut führt. Ich erspare mir die Maßnahmen zur Schuldeneintreibung bei einigen Ländern Europas (z.B. Privatisierungen in Griechenland in Höhe von 50 Mrd. ¬ ) und erhebe übrigens keinen Anspruch auf Vollständigkeit der genannten Maßnahmen und ihrer Fortführung.

 

Zum Nachlesen: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/119824.pdf

 

Auf diese große abgestimmte Schweinerei haben mich übrigens die Genossen vom RCC hingewiesen. Sie sind zurzeit sehr aktiv in verschiedenen progressiven Vereinen. Dazu demnächst mehr. In Kürze aber wird ein Brief zum Thema folgen: Woher kommen die großen Schulden Frankreichs? Hier nur ein Teil der „Einkaufsliste": Boden-Luft-Rakete Scalp (bis Juni 11 Stück in 13Jtwx€‚…

 

Libyen eingesetzt) zwischen 500 und 800 Tsd.¬ /Stück. Warum der große Preisunterschied, habe ich noch nicht herausgefunden. Es könnte mit der - Bewährung der neu erprobten Waffe beim Zerbomben des blühenden Landes Libyen mitsamt eines Großteils seiner Bevölkerung zusammenhängen.

 

Zorn, liebe Leser, kann erhitzen. Kanalisieren wir ihn, wir werden alle unsere Kräfte noch brauchen.

 

In diesem Sinne grüßt

 

Alexandra

 

bei Paris, 04. November 2011

 

 

Veröffentlicht in Neu: Briefe aus Frankreich

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