Fettauge und Wassersuppe

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

Wer zu Anfang des 3. Jahrtausends in den reichen Zentren der Welt lebt - in Nordamerika, Westeuropa, Japan, Australien - nimmt die Welt natuerlich aus dieser Perspektive wahr. Aber weniger als ein Sechstel der gegenwaertigen Menschheit lebt so. Fuer die ueberwiegende Mehrheit ist die Welt ganz anders. Ungeachtet dessen machen die meisten Bewohner der reichen Regionen die eigenen Lebensbedingungen zum Massstab ihrer Urteile und ihres Verhaltens. Sie halten die bestehenden Verhaeltnisse, bei allen Maengeln, die durchaus konstatiert werden, fuer die besten.



Erstaunlich ist dabei: Obwohl rund um die Uhr in allen Medien von Globalisierung die Rede ist, ist "der Westen" irgendwie das Eine und der "Rest" ist etwas Anderes. In Wirklichkeit gibt es, von einigen Gegenden die zum Sozialismus kommen wollen, abgesehen, nur ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem auf der Welt - den Kapitalismus. Diese Ordnung selbst hat es zuwege gebracht, dass es nur noch "eine Welt" gibt.

 

Erst das fiktive Auseinanderreissen der in Wirklichkeit einen weltweiten Gesellschaftsordnung, die die menschenverachtenden Unterschiede zwischen monstroesem Reichtum und bitterstem Elend hervorbringt, macht es moeglich, das Bestehende noch "positiv zu denken". - Eine Fiktion - die Trennung des "Westens" von seiner Elendsgrundlage im Kopf, waehrend es diese Trennung in der Wirklichkeit nicht gibt - und gaebe es sie, waere der "Westen" nicht so reich - , wird zur Grundlage der - "bei allen Bedenken" - zuletzt doch positiven Urteile. Wer diese falsche Trennung nicht macht, muss zugeben, dass ein paarhundert Millionen "Wohlstandsbuerger" ein ziemlich schlechtes Argument fuer das Bestehende sind, wenn die "Begleiterscheinung" dieses Wohlstands Milliarden Hungerleider sind.

 

Aus der Perspektive der reichen Zentren ist der Kapitalismus allerdings eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte. Die von seinen wirtschaftlichen Antrieben hervorgebrachte wissenschaftlich-technische Entwicklung, Steigerung der Produktivitaet, Menge und Qualitaet der produzierten Gueter, sind ein Fortschritt, der innerhalb der historisch kurzen Zeit von rund zwei Jahrhunderten alle vorangegangenen Phasen der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft weit in den Schatten stellt. So gut wie jede Generation hat seit dem 19. Jahrhundert die Raschheit dieses Fortschritts vor Augen, die innere Kraft des kapitalistischen Wirtschaftens. Und etwa seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bis zum ausgegenden 20. Jahrhundert verbessern sich in den reichen Regionen, mit grossen Schwankungen und existenzgefaehrdenden Einbruechen zwischendurch, die Lebensbedingungen auch der Lohnabhaengigen.

 

Wirtschaftlicher Fortschritt ist in den Zentren die praegende Erfahrung, auch fuer die Angehoerigen der unteren Klassen und Schichten . Daran relativiert sich jeder Zorn ueber Ungerechtigkeit, soziale Ungleichheit, die dekadente Prasserei der Reichen und das kaergliche Leben in den unteren Schichten. Diese Erfahrung ist zu einem Lebensgefuehl geronnen, das noch die schaerfste Kritik zu praktischen Konsequenzen abstumpft, die im Vergleich zu ihrem Gegenstand laecherlich sind.

 

Daran relativieren sich selbst so grundlegende Kriterien wie das der eigenen sozialen Lage. Zwar gibt es in der Arbeiterklasse und den unteren sozialen Schichten auch heute durchaus ein rudimentaeres Klassenbewusstsein. Der Alltag fuehrt ja nicht nur den ueberquellenden Reichtum vor Augen, sondern auch, dass der eigene Anteil daran bescheiden ist, und dass aus der kapitalistischen Art zu wirtschaften auch in den reichen Regionen Ungerechtigkeit, Menschenverachtung, Entwuerdigung, Arbeitshetze, soziale Abstuerze und der heute wieder unverschaemter zur Schau getragene Hochmut der Reichen und Maechtigen entspringen. - Aber verglichen mit aller bisherigen menschlichen Geschichte, und die Armut auf dem Grossteil des Planeten verglichen mit den eigenen Lebensumstaenden, erscheint dies den meisten als letzten Endes doch hinnehmbar. Schliesslich sind die Menschen in den Zentren in der ueberwiegenden Mehrzahl nicht hungrig, sondern viele eher zu fett, haben ein Dach ueber dem Kopf, Arbeit. Die Infrastruktur funktioniert. Man lebt in relativer Rechtssicherheit. Jedermann kann, in gewissen Grenzen, sagen, was er will, jedenfalls in seinem Privatleben.

Trotz manchen Gemurres bleiben die reichen Zentren das Leitbild fuer die meisten Menschen, die in ihnen leben, und die Sehnsucht der Mehrheit der Weltbevoelkerung. Zig Millionen in den armen Regionen traeumen von einem Leben im reichen Norden, und Millionen versuchen, dorthin zu gelangen - wohl wissend, dass sie hoechstwahrscheinlich ein Leben am untersten sozialen Rand erwartet. Aber selbst das ist vielen noch verlockend genug, dafuer sogar das Leben zu riskieren. Und die auf vergleichsweise "hohem Niveau" maulenden Arbeiter und Angestellten aus den Zentren besichtigen als Kunden der Tourismus-Industrie und Konsumenten der Medien das Elend in anderen Weltregionen und koennen nur schliessen: Im Vergleich dazu gehts uns doch gold.

 

Das ist eine Seite. Es gibt eine andere: eine bestaendige gewisse Unzufriedenheit, Unsicherheit, ein Pessimismus, eine weitverbreitete Katastrophenangst bis hin zu Untergangsstimmungen. Die Zukunft erscheint eher nicht als Vervollkommunung der vergangenen Erfolge, die sich dereinst uber den ganzen Planeten verbreitet haben werden und allen Menschen ein Leben in materiellem Wohlstand, sozialer und rechtlicher Sicherheit und persoenlicher Freiheit bescheren werden. Duestere Befuerchtungen haben grosses Gewicht oder ueberwiegen sogar.

 

In der fuer die Massen produzierten Kultur wird daraus jede Menge Geschaeft geschlagen: So ziemlich alle denkbaren Apoklypse-Varianten werden durchgespielt. Namentlich die Erzeugnisse der Filmindustrie zum Thema Zukunft sind eine Orgie der Gewalt, der Naturkatastrophen, kosmischer Katastrophen. Von ueberall her wirft sich das Boese auf die Zivilisierten und verschlingt sie - beinahe. Verkaufstechnisch muessen Happy Ends sein. Aber die Rettung kommt gewoehnlich in allerhoechster Not gerade noch und von seiten so unwahrscheinlicher Helden, dass man schon weiss: Die gibts in der schnoeden Wirklichkeit nicht.

 

Ein anderer Geschaeftszweig bedient die Beduerfnisse nach jenseitiger Welterklaerung. So gut wie nie waechst aber dieses Angebot auf dem eigenen Mist, obwohl die buergerliche Kultur doch ein selten fruchtbarer Boden waere. In den weitlaeufigen Gefilden des Mystischen, Unerforschlichen, Jenseitigen, der Maechte, denen der Mensch hilflos ausgeliefert ist, wird so gut wie ausschliesslich in der Vergangenheit und in den entlegensten Regionen gejagt. Je tiefer in der Geschichte versunken, schemenhafter und ungenauer ueberliefert die untergegangenen Kulte sind, je hinterwinkeliger die geographische Herkunft ist - desto besser, ist das Motto der Esoterikindustrie und der "neuen" Religioesitaet. Die Alltagserfahrung, dass Wissenschaft und Technik, das gesamte "moderne Leben" ein grosser Fortschritt sind, verkehrt sich in der kulturell-geistigen Verarbeitung eher ins Gegenteil. Buergerliche Leitbilder werden unglaubwuerdig - und die erste Bewegung ihrer Ablehnung ist die Hinwendung zu noch aelteren Mysteleien. So koexistieren "die tiefen Weisheiten der alten Kulturen" erfolgreich mit dem Machbarkeitskult und dem Kotau vor der Allmacht des Marktes.

 

Ueber allem liegt eine vage Ahnung: die Art, wie wir leben, sei womoeglich eine Fehlentwicklung, ein Weg in die Katastrophe. Von Menschen ertueftelte und gefertigte Geraete verlassen soeben das Sonnensystem, um den weiteren Kosmos zu erforschen - und im selben Moment ertraeumen Menschen die Rueckkehr in die Vergangenheit und in der allerduemmsten Variante zurueck in die vermeintlich idyllische Waldurspruenglichkleit.

Der "Kulturpessimismus" zieht sich zwar durch die gesamte Geschichte des Kapitalismus; aber die Wucht, mit der er heute das Lebensgefuehl in den Zentren bestimmt, ist eher neu. Er ist nicht mehr so sehr Begleiterscheinung, sondern mehr das beinahe schon gleichschwere Gegengewicht zum Wohlgefuehl, in einem der Fettaugen auf der Hungersuppe mitzuschwimmen. Beides existiert nebeneinander, obwohl das Eine das Andere logisch ausschliesst. Dieser Zwiespalt erzeugt schizophrene Gemuets- und Geisteszustaende.

Die vorletzte technische Revolution - Fliessband und tayloristische Arbeitsteilung - war noch ueberwiegend von zukunfstfrohen Erwartungen begleitet. Der Optimismus hielt sich, mit gewissen Einbruechen, bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts. Seit den 1950er Jahren war es fast fraglos gewesen, dass es "immer weiter aufwaerts gehen" wuerde. Die hoechstentwickelten Regionen waren bloss die ersten. Die "unterentwickelten" wuerden mit der Zeit folgen. Die "Schwellenlaender" - noch unterentwickelt, aber dabei, aufzuholen - schienen der praktische Beweis dieser angenommenen allgemeinen Tendenz zu sein. Der Kapitalismus mochte ungerecht sein und alle moeglichen unerfreulichen Begleitumstaende mit sich bringen. Aber letztlich wuerde er die ganze Menschheit auf eine neue Zivilisationsstufe heben.

 

Heute erscheint eine solche Perspektive nicht nur als unwahrscheinlich; die Zahl der Favelabewohner in Lateinamerika vermindert sich nicht, sondern waechst, und in Afrika loesen sich Staaten auf, weil das Mindestmass an Reichtum, das fuer ihren Betrieb notwendig ist, einfach nicht produziert wird. Aber nicht nur diese Seite der wirklichen Entwicklung, das Versinken des Kapitalismus in barbarische Verhaeltnisse "auf seiner Schwanzseite", sondern die Perpektive "auf seiner Kopfseite" - die ganze Menschheit in einem "Wohlstand" der Art, wie er in den reichen Laendern existiert - erscheint nicht als Verheissung sondern eher als Bedrohung. Was waere, wenn die Chinesen und Inder so viele Privatautos haetten wie die Bewohner der Metropolen ?!

 

Massenstimmungen sind Seismographen. Sie erspueren das erste Zittern vor dem Beben. Und die Meinungsindustrie bedient die duesteren und aengstlichen Stimmungen, wirkt als deren Verstaerker und leitet sie gleichzeitig ins Absurde ab - und macht selbst daraus noch ein Geschaeft. Aber gleichzeitig ist der Metropolenduenkel nach wie vor wirkungsmaechtig. Seine Leitbilder halten noch, wenn auch unterminiert von dunklen Ahnungen, und noch diese dunklen Ahnungen befoerdern sie auf verquere Weise. So ist in den Koepfen, was drin sein muss, damit die Verhaeltnisse so funktionieren, wie sie funktionieren muessen, wenn "das Geld die Welt regiert". -

 

Was so im Kopf ist ...

 

Zum Beispiel:

 

Die Gesellschaften, wie sie in Nordamerika, Westeuropa, Japan und einigen weiteren Enklaven des "Westens" existieren, sind der Gipfel der Zivilisation und der Endpunkt der Geschichte. Weitere Entwicklung wird es geben, aber eine wuenschenswerte nur in diesem Rahmen. Wer etwas anderes will, will etwas Schlechteres - jedenfalls laeuft es darauf hinaus.

 

Oder:

Die armen Laender sind deshalb arm, weil sie noch nicht so weit fortgeschritten sind wie der Westen. Der Westen hilft ihnen einerseits mit Entwicklungshilfe, andererseits, indem er sie bei der Herstellung demokratischer Verhaeltnisse unterstuetzt, die letztlich die Voraussetzung und Gewaehr fuer eine gedeihliche auch wirtschaftliche Entwicklung sind. Wenn in diesen armen Laendern besonders grausame und verbrecherische Regime an der Macht sind, ist zu pruefen, ob man den armen Menschen per Entsendung von Friedenstruppen zu Hilfe kommen muss. Die demokratischen Staaten haben eine Art Oberaufsicht ueber die Voelker und Staaten.

 

Oder:

In der Politik geht es immer um kleine Schritte, um Augenmass und Kompromisse zwischen allen. Ungerechtigkeit und sogar da und dort Unterdrueckung wird es allerdings immer geben. Die Erde ist nun einmal kein Paradies.

 

Oder:

Die Ordnung in der westlichen Welt Welt ist von zwei Elementen getragen: erstens einer freien Wirtschaft, deren Privateigentum garantiert ist, und die am besten von einer sozialen Politik des Staates flankiert wird, damit die wirtschaftlich Schwaecheren auch zu ihren Recht kommen; zweitens von demokratischen Werten und Institutionen, die dem Wesen des Menschen am besten entsprechen.

 

Oder:

Heutzutage geht es ohnehin nicht mehr um den Menschen, sondern um die Umwelt. Der Mensch ist ein Schaedling in der Natur, welchletztere vor ersterem beschuetzt werden muss, weil anderenfalls das ganze Oekosystem zusammenbricht. Wir sind alle Umweltsuender. Ablaesse gibt es bei den einschlaegigen NGOs zu kaufen, aber eigentlich genuegt das natuerlich nicht. Man muss schon auch seinen Muell trennen, Sachen essen, auf deren Plastikverpackung das Wort "Bio" steht, und mal mit dem Mountainbike zur Arbeit fahren.

 

Oder:

Der Kommunismus ist tot. In den ehemaligen sozialistischen Staaten herrschten totalitaere Regimes, vergleichbar mit faschistischen. Es ging um den Versuch, eine "Idee" zu verwirklichen - die sozialistische oder kommunistische. Die mag schoen sein. Sie entspricht aber nicht dem Wesen des Menschen. Deshalb ist sie zu einer menschenfeindlichen Wirklichkeit geworden. Jedes linke, revolutionaere Bestreben ist daher ueberholt.

 

Undsoweiter

 

An diese Weltsicht ist vieles platt, manches laedt zum Schmunzeln oder Zaehneknirschen ein, und das meiste ist gelogen oder absurd verdreht. Und doch handelt es sich um den Vorstellungs-Plot, der die Koepfe der meisten Menschen in der heutigen "westlichen Welt" besetzt. Jede Menge Kritisches ist beigemischt, es gibt einige Verunsicherung ueber Gueltigkeit und Wahrheitsgehalt. Aber der Plot haelt. Die Verhaltensweisen der meisten Menschen gegenueber sich selbst und gegenueber der Gesellschaft sind weitgehend davon bestimmt.

 

Worum handelt es sich ? Die herrschenden Ideen sind die Ideen der Herrschenden, behauptet Marx. Darum koennte es sich handeln.

 

... und wie es hineinkommt ...

 

Seit den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts wurde eine Modifizierung des Plots notwendig. Wie das vor sich ging, ist ein lehrreiches Beispiel fuer das freie Entstehen der freien Meinungen.

 

Fuer die, die die Meinungen machen, deren anschliessend jeder Mensch seine eigene hat, stand schwere Arbeit an. Die Zeiten sollten sich in einiger Hinsicht aendern, und die Hirne mussten den neuen Erfordernissen angepasst werden. Die Menschen muessen schliesslich eine Meinung darueber haben, warum sie den Guertel enger schnallen muessen, soziale Standards zurueckgenommen werden, der Staat die Grosskapitalisten zusaetzlich fuettern und deswegen alle anderen haerter schroepfen muss; dass Massenarbeitslosigkeit ein - gleichwohl von den Regierungen heftig zu bekaempfender - Sachzwang ist; warum internationales Recht nicht mehr gilt und westliche Truppen an so vielen Punkten der Welt den Frieden herstellen muessen; dass sich zu den alten Feinden neue gesellt haben und man diese ueberall auf der Welt bekaempfen muss.

 

Wenn die Zeit reif ist, finden sich die Genies schon, die die erforderlichen neuen Meinungen so griffig formulieren koennen, dass sie leicht zu merken sind und Allgemeingut werden. Ein gewisser Herr Fukujama erfand also das Ende der Geschichte. Herr Huntington erfand den Kampf der Zivilisationen. Herr Gorbatschow erfand die Menschheitsprobleme. - Um nur drei dieser Sorte Genies zu nennen und von den Legionen Detailgestaltern zu schweigen, die die neuen Leitideen zu den fuer FAZ- und BLOED-Leser verdaulichen Haeppchen machen.

 

Die Wegweiser in die neue Zeit, die man Neoliberalismus und Globalisierung zu nennen begann, wurden aufgestellt, und sie wiesen den unzaehligen voellig autonomen freien eigenen Meinungen die Richtung, in die sie zu neuerdings zu meinen hatten:

 

- Heute weiss (meint) so ziemlich jede und jeder im "Westen", dass die Globalisierung und die Umwelt eine gewisse Verzichtsbereitschaft verlangen. Ohnehin sind womoeglich eine auf Harmonie gerichtete Geisteshaltung und die Kunst, sich noch den groessten Mist "positiv zu denken", ergoetzlicher als dieser ewige schnoede Konsum (der gleichwohl, wegen des Kampfes um die Arbeitsplaetze, immer noch mehr modischen Schrott absorbieren muss) .

 

- Heute weiss (meint) man im "Westen", dass "der Terrorismus" der Feind ist, der uns bedroht. Es gibt Schurkenstaaten, die mit ihm symphatisieren und ihn foerdern - Herr Bush junior kam mal auf ueberschlaegig vierzig bis fuenfzig.

 

- Herr Bush ist baeh, aber irgendwie ist da doch was dran. Man weiss (meint) naemlich auch, dass die Guten jederzeit das Recht - ach was: die Pflicht ! - haben, sich im Namen der Menschenrechte und der Demokratie, des freien Handels mit den Ressourcen anderer Laender und des Schutzes der Umwelt wegen in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einzumischen, diese zu begutachten und zu ueberwachen, Sezessionen zu foerdern oder zu stoppen, den Sturz boeser Regierungen zu betreiben.

 

Die Aelteren erinnern sich vielleicht noch an die sogeannte Breshnew-Doktrin. Mit ihr wurden die sozialistischen Laender, die in Comecon und Warschauer Pakt verbuendet waren, geknechtet. Sie hatten nicht die freie Wahl, den Kapitalismus wieder einzufuehren, aus den Pakten auszuscheren und sich dem "Westen" anzuschliessen. Die "Doktrin" war als solche eine Erfindung der westlichen Propaganda. Aber soweit es in der Politik der SU solche Elemente gab, handelte es sich jedenfalls um die Verteidigung des Status Quo. Von einem Dominanzanspruch in der ganzen Welt konnte nicht die Rede sein. Diese angebliche Doktrin war allgegenwaertiger Gegenstand der Empoerung ueber die typisch dikatorischen Praktiken der Kommunisten. - Und wie ist das mit dem Anspruch, alle Staaten auf der Welt muessten die politische und wirtschaftliche Ordnung des "Westens" uebernehmen ? Und den vielfaeltigen Versuchen, im Fall von Unbotmaessigkeit diesem edlen Anliegen mit politischer und wirtschaftlicher Erpressung, Medienhetze, geheimdienstlicher Wuehlarbeit und "notfalls" militaerischer Gewalt nachzuhelfen ? Ist eine Bush- oder Struck- ("Deutschland wird am Hindukusch verteidigt") - "Doktrin" von heute nicht unvergleichbar unverschaemter ? In der UN-Charta, die 1948 unter dem Eindruck des II. Weltkriegs verabschiedet wurde, steht immer noch: Staaten sind souveraen. Staatsgrenzen sind unantastbar. Die Einmischung in innere Angelegenheiten ist verboten. Die Androhung oder gar Anwendung militaerischer Gewalt ist verboten. - Das macht nichts. Die Durchsetzung der guten Endzeitordnung in allen Weltwinkeln, die Notwendigkeiten des Kampfes gegen die Boesen und fuer die Menschheitsprobleme sind dringlicher.

 

Binnen kurzer Zeit wurde der Plot, der seit der Nachkriegszeit die Gehirne beherrscht hatte, neu justiert. Dem Ideal der allmaehlichen Besserstellung aller wurde die Geneigtheit zum Verzicht beigemischt. Der kommunistische Feind wurde voruebergehend in die Reserve versetzt und ein neuer erfunden: "der Terrorismus". Das Ideal des friedlichen Zusammenlebens gleichberechtigter Staaten verwandelte sich in die moralische Pflicht zur Einmischung in die Angelegenheiten anderer Staaten.

 

Spiegelbildlich zur Selbstherrlichkeit der staerksten buergerlich-demokratischen Staatsapparate, die nicht nur ihre eigenen Buerger immer umfassender zu kontrollieren trachten, sondern auch die anderer Staaten, gibt es ein Massenbewusstsein, das diese Kontrolle - sei es kritisch-bedenklich, sei es affirmativ - hinnimmt und die Unveraenderlichkeit der Gesellschaft als Axiom betrachtet - mit Ausnahme dessen, was von oben, respektive vom "Sachzwang", kommt.

 

Die Ueberhebung der Regierenden ueber das Volk, ihre Verbaendelung mit dem Grosskapital, die immer umfassenderen Kontroll- und Ueberwachungstechniken, der Regelungsanspruch und die Einmischung des Staates in die privatesten Angelegenheiten der Buerger, die Abrichtung zur "politischen Korrektheit" mit Hilfe von Prohibitions- und Ausrichtungs-Kampagnen werden durchaus registriert. Dass politische Parteien ihre "Wahlversprechen" nicht halten, sondern, an die Regierung gelangt, im Namen des Sachzwangs das Gegenteil tun, ist sprichwoertlich und wird massenhaft mit "Politik-" respektive "Parteienverdrossenheit" beantwortet und die Nichtteilnahme an Wahlen als angemessenes Mittel der "Bestrafung" angesehen. Eine allgemeine Unzufriedenheit und Perspektivlosigkeit ist zu spueren; ein Zweifeln am Sinn der Warenflut, deren "Modernisierungs"wellen in immer kuerzeren Abstaenden eine die andere ueberrollen; das Gefuehl, dies koenne doch "nicht alles sein"; - die Zukunft eben eher eine Bedrohung als eine Hoffnung. Die Abwendung von einem rationalen Weltbild und die Hinwendung zu einer neuen Religioesitaet erfasst viele Millionen Menschen. Der Alltag ist fuer einen grossen Teil der Arbeitenden von Angst und Stress unterlagert, von der bestaendigen Sorge um den Erhalt der Zahlungsfaehigkeit und des Arbeitsplatzes und der Angst vor dem sozialen Absturz. Und selbst in den reichsten Regionen bleibt ein nicht kleiner Teil der Bevoelkerung in der Konkurrenz aller gegen alle tatsaechlich auf der Strecke, wird psychisch krank, arbeitsunfaehig, herausgeschleudert aus der Muehle und versinkt in einem wieder groesser werdenden Subproletariat.

 

Die vorherrschende Reaktion auf schwieriger werdende Lebensverhaeltnisse ist aber zunaechst - sich auf sie einzurichten.

 

 Von oben wird diese loebliche Verhaltensweise nach Kraeften gefoerdert: Gegen die Sachzwaenge koennt ihr nichts machen, deshalb nennen wir sie ja so. Wenn ihr an euerem Standort nicht flexibel genug seid in der Hinnahme von Lohnkuerzungen, Arbeitszeitverlaengerungen, Erhoehung des Rentenalters etc. - andere an anderen Standorten sind es womoeglich schon. Und nicht die profitgeilen Spekulanten und ihre Regierenden sind fuer das gemeine Volk die Gefahr, sondern Sachen, die von aussen und irgendwie jenseitig oben kommen: die Terrroristen, die Immigranten, der Umweltkollaps, der Zerfall der westlichen Werte, die anderen Standorte, die Unfreundlichen und Boesen, das ewige Wesen des Menschen, das Schicksal als solches ...

 

Das Hinnehmen ist aber nicht nur das Ergebnis einer umsichtigen Meinungsbildung. Die Buerger in den reichen Regionen sind nicht nur das Opfer der Medien, Parteien, Regierungen. Sie machen durchaus ihre eigenen Kalkulationen auf, die das Hinnehmen nahezulegen scheinen: Die Welt ist halt eine Hungersuppe, auf der ein paar Fettaugen schwimmen. Moegen letztere an den Raendern duenner werden - man ist immerhin drin. Gott - oder der freiheitlich-demokratischen Ordnung - sei Dank, ist man keiner von denen, die im Container oder im seeuntauglichen Seelenverkaeufer versuchen muessen, dorthin zu gelangen, wo man selbst schon ist - und sei es in gar nicht so vorteilhafter Lage.

 

Das Hinnehmen ist Fehlkalkulation und Selbsttaeuschung. Es wird von der sich fuer die Masse der Arbeitenden zum Schlechteren entwickelnden Realitaet bestaendig zernagt. In den meisten Koepfen haelt zwar der neujustierte Plot, aber in vielen haelt er gerade noch.

 

... und womoeglich wieder hinaus.

 

Aber wer dem in seinem Kopf eingeaezten Plot soviel Kritisches beigemischt hat, dass er an diesem ernstlich zu zweifeln beginnt, steht vor einem neuen Problem: Wenn das Eine nicht wahr und richtig ist - was ist dann wahr und richtig ? Woran kann man sich halten ?

An dieser Stelle erscheinen die Reserve-Plots auf dem Bildschirm. Man braucht sie bloss anzuklicken, und schon ist man wieder eine Zeitlang oder auch lebenslaenglich beschaeftigt.

 

Zum Beispiel:

Jeder hat recht. Oder unrecht. Das ist das Selbe. Es gibt naemlich keine Wahrheit, sondern bloss den Diskurs. Der Diskurs ist der freie Austausch der Milliarden Meinungen, waehrend die Realitaet gar nicht erkennbar ist. Die sieht naemlich jeder irgendwie anders. Wenn ueber die Realitaet refelektiert wird, ist das moegliche Resultat nicht Kenntnis von Tatsachen, sondern es handelt sich um Ezaehlungen. Man lasse sich ja nicht von einem mechanistischen Fortschrittsglauben irritieren ! Die Beliebigkeit, der Zufall, das Chaos beherrschen die Welt, was sag ich - das Universum. Hat nicht jedefrau und jedermann schon von der Chaostheorie gehoert ? Und vom 2. Hauptsatz der Thermodynamik ? Eben. Und da ist ausserdem noch die Urknalltheorie, also ist am Ende eh alles hin. Alles menschliche Streben ist eitel, hat schon der alte Goethe gesagt.

 

Oder

... man klickt an der Stelle die einschlaegigen weiterfuehrenden Links an: Hexentaenze bei Vollmond, die Astrologie, heilende Halbedelsteine, die verflixte Wasserader unterm Bett, die himmelsrichtungsmaessige Ausrichtung der Glotze, die Betrachtung des eigenen Bauchnabels als dem Ursprung des eigenen innersten Wesens, die linksdrehende Milchsaeure, Hildegard von Bingen, Dijeridooh und die Welt des Funsports oder der Meditation, die tiefen Weisheiten untergegangener Kulturen, Gott in beliebiger Ausfuehrung, am besten fernoestlich oder christlich erneuert.

 

Oder

... man ueberspringt die Reserve-Plots.

 

Was ist jenseits davon ? Spannende Sachen. Zum Beispiel: Sich Wissen aneignen.

 

Sich Wissen aneignen? Wissen wir nicht einen ganzen Haufen, vielleicht viel zu viel ? Leben

wir nicht im Zeitalter des Informationsueberflusses ?

 

Nun ja. Vielleicht ist es eher so: Der "Informationsueberfluss" macht die Hirne zu Brei. Die Beliebigkeit, die Oberflaechlichkeit, das medial Vorgekaute schiebt sich wie ein kleinporiger Filter vor die Realitaet. Das Resultat - siehe oben: Die Welt ist ein undurchschaubares Chaos; sie ist nicht erkennbar; womoeglich ist sie nur die Einbildung des jeweiligen Individuums. Und ihr Betrachter ist ein mutierter Analphabet - der idiotisierte Medienkonsument.

 

Wissen ist etwas anderes und eher das Gegenteil. Der Strom von Informationen kann noch so maechtig sein, - wer nicht lernt zu verstehen, wird darin kopfueber- kopfunter gewirbelt; und wenn ihm ganz taumelig im Kopf ist, faengt er an, BLOED zu lesen; weil man da so schnell und uebersichtlich informiert wird. Verstehen laeuft dagegen nur ueber das Durchdenken der "Informationsflut", das Begreifen von Strukturen, das Unterscheiden von Wesentlichem und Unwesentlichem, von Oberflaechenerscheinungen und dem, was womoeglich darunter verborgen ist. Das laeuft abseits vom heutigen mainstream. Mitten im mainstream ist es nicht zu kriegen. Es handelt sich darum, die Welt mit den Mitteln der Wissenschaft anzuschauen. Dazu muss man kein Wissenschaftler werden. Aber des vorhandenen Wissens bedienen muss man sich schon. Darunter geht nicht viel.

 

Das ist ein geistiges Vergnuegen, mit dem Spielkonsole und Tarotkarten nicht konkurrieren koennen. Es macht einen klareren Kopf und ein gutes Gefuehl von sich selbst. Es raeumt auf mit der ewigen Maulerei und dem "sollte sein, ist aber nicht". Und vor allem ist es nuetzlich. "Wissen ist Macht !" - Das war einmal eine Erkenntnis der Arbeiterbewegung, die so weit verbreitet war, dass Millionen gewoehnlicher Fabrikarbeiter wissenschaftliche Sachen lasen und verstanden. Das war zum Beispiel in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts und in der ersten Haelfte des 20. so. Davon sind wir im 21. Jahrhundert - "im Zeitalter des Informationsueberflusses"! - weit entfernt.

 

Sepp Aigner

2007

 

Veröffentlicht in Kultur und Gesellschaft

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