Warum fünf Erschossene irgendwie nicht die Top-Sensation sind
Vier Menschen und anschliessend sich selber zu töten - das ist in Deutschland etwas,das nicht alle Tage und nicht einmal alle Jahre vorkommt. Die Tat geht seit gestern durch die Medien. Ich hörte ein paarmal Radio-Nachrichten. Da fiel mir auf, dass man sie nicht als Topnachricht brachte,sondern an fünfter Stelle. Und wenn man heute auf die BLÖD-Internet-Site klickt, steht da garnichts davon auf der Top-Seite; stattdessen die Geschichte von dem Jungen, der sich im Sand eine Höhle gebuddelt hat und bei deren Einstuz erstickt ist. Warum wird die Bluttat so tief gehängt ? Sie ist doch das gefundene Fressen für die Aasgeier von den Mainstream-Medien, möchte man meinen ?
Ich vermute, dass es der Hintergrund der Tat ist, der die Meute davon abhält, das Ereignis allzu hoch zu hängen. Ein Mensch soll per Zwangsräumung aus seiner Wohnung vertrieben werden. Der Mensch reagiert darauf, indem er die ehemalige Eigentümerin, den neuen Eigentümer, den Gerichtsvollzieher, den Mann vom Schlüsseldienst, den dieser mitgebracht hat, um die Wohnung bei Bedarf gegen den Willen des Bewohners öffnen zu lassen, und sich selbst um. - Den Hass und die Verzweiflung, die sich in dieser Tat ausdrücken, fühlen in Deutschland jedes Jahr Tausende von Menschen. Jeden Tag werden Wohnungen zwangsgeräumt. Immer geht es dabei nach Recht und Gesetz zu. Aber jemandem das Dach überm Kopf zu nehmen bedeutet für den Betroffenen Obdachlosigkeit, im noch besten Fall die Unterbringung in einer kommunalen Notunterkunft oder das vorübergehende Unterkommen bei Freunden. Neben Essen und Trinken und der Notwendigkeit, sich zu kleiden, gibt es nichts Elementareres als ein Dach überm Kopf. Sich gefallen zu lassen, dass es einem genommen wird, weil es nach "Recht und Gesetz" zugeht, setzt eine Anpassungsbereitschat und Unterwerfung unter die Verhältnisse voraus, das stark genug ist, sich sogar mit dem Entzug des Allerelementarsten abzufinden.
Diese staatsbürgerliche Konditionierung hat in diesem Fall versagt. Sie funktioniert so gut wie immer, aber diesmal hat sie versagt. Der Mann hat sich nicht selber gesagt: Ich bin ja selber schuld, jetzt muss ich halt die Konsequenzen tragen. Er hat seinen Hass und seine Verzweiflung nicht am eigenen Versagen und am "Das darf man doch nicht" relativiert. Die alte Eigentümerin, der neue Eigentümer, der Gerichtsvollzieher und dessen Hilfskraft wollten ihm etwas absolut Elementares nehmen - und er hat sie deswegen erschossen. Er hat keineswegs blind getötet. Den Sozialarbeiter hat er laufen lassen.
Das macht die Hüter der bürgerlichen Wohlanständigkeit kleinlaut. Das lässt sie das voyeuristische Angebot vorziehen, das das Unglück des im Sand buddelnden Jungen hergibt. Dabei hätte man die Bluttat in ein Beziehungsdrama umschreiben können. Die getötete ehemalige Besitzerin war ja angeblich die Freundin des Täters. Aber das Thema Wohnen als unabdingbares Bedürfnis und die Verächtlichkeit von "Recht und Gesetz" diesem Bedürfnis gegenüber ist doch zu offensichtlich. Und das ist ein gefährliches Thema.
Die Zeiten werden härter. Die staatsbürgerliche Unterwerfung ist jeden Tag bei Tausenden Menschen einem Stresstest ausgesetzt; der Drecksjob für einen Lohn, von dem man nicht leben kann; die Entlassung aus "betriebsbedingten Gründen" - aber der Chef fährt den dicken Mercedes und wohnt in seiner noblen Villa; das Maulhalten und Schlucken in der Arbeit - bloss nicht Mucken, sonst bist du der nächste, der gehen muss; das leere Konto nach drei Wochen des Monats; die Scham,sich Lebensmittel von der "Tafel" geben lassen zu müssen; das "Es geht gerade noch so" und "Ich weiss eigentlich nicht mehr ein und aus" ... Es sind inzwischen an die zehn Millionen Menschen in Deutschland, die so arm sind, dass sie sich nicht selber durchbringen können. Und noch viel mehr Menschen müssen sich, um sich selber durchzubringen, Sachen gefallen lassen, die eigentlich jenseits aller Grenzen der Zumutbarkeit liegen. - Da braut sich was zusammen. Wenn einer ausrastet, ist das ein Warnsignal.
Ach, es geht schon noch. Vielleicht kommen ja wieder bessere Zeiten. So wie in Mexiko City ist es noch lange nicht: Da sind die besseren Wohnviertel umzäunt und am Eingang zur Wohnstrasse gibt es eine Schranke und ein Wärterhäuschen. "Besser" ist da schon, sich in einem Block eine Zweizimmer-Wohnung europäischen Standards und den Käfer auf dem geschützten Parkplatz leisten zu können. Die Reichen leben auf ummauerten Grundstücken, das ihre Kinder niemals ohne Bewachung verlassen dürfen. Ach, da ist es bei uns in Deutschland noch gold. Aber irgendwie geht es mit der deutschen Gemütlichkeit zu Ende. Das schon, nicht wahr ?
Übrigens, fällt mir gerade ein: Die kommunistische Partei Spaniens hat auf einer Konferenz im Juni eine Resolution folgenden Inhalts beschlossen: Die Partei und ihre Mandatare in den Kommunen wollen durchsetzen, dass öffentliche Flächen für den Anbau von Gemüse benutzt werden können und dass die Gemeindeverwaltungen den Bürgern mit Fachleuten dabei hilft, Gemüse auf dem Balkon zu ziehen. Das sei dringlich, weil viele Familien sich nicht mehr genügend Lebensmittel kaufen können. Die spanische Gemütlichkeit ist schon vorbei. Und die deutsche geht zu Ende.