Annotationen zur neuesten Weltwirtschaftskrise

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

Von Menschen und Eseln

Geschichte wiederholt sich nicht, heisst es. Das stimmt. Die Geschichte ist kein Kreis, den die Menschheit wieder und wieder umrundet, so dass die neuen Generationen stets wieder dort ankommen, wo die Ahnen schon gewesen sind. Geschichte ist eher eine Spirale, die sich, mal flacher, mal steiler, aufwaerts schraubt und deren Durchmesser sich von Windung zu Windung vergroessert. Die Lebenden sind ganz oben und vorne, an der Grenze. Vor ihnen liegt das Nochnichtgewesene, das sie erfinden und erarbeiten. Wir machen naemlich unsere Geschichte selbst. Was wir selbst gemacht haben, nennen wir nachtraeglich Geschichte.

Wir machen unsere Geschichte selbst ? - Gegen diese Behauptung gibt es mancherlei Einwaende. Selbst wenn wir Goetter und Vorsehung, Welterschaffung und jenseitigen Willen beiseite lassen - sind wir denn nicht eher hilflos ausgeliefert ? Unserer eigenen ewigen Natur, ueber die wir nun einmal nicht hinauskoennen ? Den Umstaenden, wie sie nun einmal sind ? Den Sachzwaengen ?

Nehmen wir zum Beispiel die gegenwaertige Krise: Sie ist ueber uns hereingebrochen. Niemand hat sie gewollt, und doch ist sie da. Niemand kann sie zaehmen, auch die Regierungen nicht, selbst wenn sie so tun als ob. Gestern hiess es noch, die Zeit der Krisen sei vorbei, die Geschichte sei zu Ende, die Globalisierung sei ein neues Zeitalter - und heute ?!

Das war doch schon mal so aehnlich, so um 1930: Schwaerzer Freitag, Boersensturz, Massenarbeitslosigkeit ... Also ist die Geschichte doch ein Kreis, in dem wir trotten wie der Esel, der, an den Balken geschirrt, jahrein, jahraus das Wasser aus dem Brunnen pumpt, von dem er das wenigste kriegt, und der nicht einmal weiss, das er es ist, der das Wasser pumpt, und sich gar nicht erklaeren kann, warum er immerzu im Kreis trotten muss.

Immerhin koennen wir denken: "Weltwirtschaftskrise, das war vor 80 Jahren doch schon mal so aehnlich." Solche Assoziationen bringt der Esel nicht zustande.

Prognosen

Das koennen Esel auch nicht: in die Zukunft schauen. Menschen dagegen versuchen das schon seit altersher. Die Eingeweide von Voegeln, die gebleichten Knoechelchen und Glaskugeln haben sich zwar nicht recht bewaehrt. Aber sogar mit solch unzulaenglichen Hilfsmitteln gelang manche Vorhersage, nicht des Brimboriums wegen, sondern weil Menschen sich darauf konzentrierten, aus der Vergangenheit und Gegenwart auf die Zukunft zu schliessen. Die Spirale wurde weitergedreht, weiter oben und aussen erfanden die Menschen die Wissenschaften. Die waren ein weit besseres Hilfsmittel als die Eingeweide und sonstigen hergebrachten Utensilien. Jetzt wissen wir ungefaehr, wie lang die Erde noch um die Sonne kreisen wird und warum. Wir wissen freilich nicht, wie tief die gegenwaertige Krise wird und wie lang sie dauern wird. Das liegt aber schon weniger an einem Mangel an Erkenntnisinstrumenten, sondern eher an der Weigerung, sie auch anzuwenden oder das mit ihnen erarbeitete Wissen zur Kenntnis zu nehmen.

Ein Beispiel.

1927, mitten in kapitalistischer Prosperitaet und recht schoenem Wirtschaftswachstum, hielten die sowjetischen Kommunisten ihren XV. Parteitag ab. Unter anderem beschaeftigten sie sich auch mit der kapitalistischen Weltwirtschaft. Im politischen Rechenschaftsbericht, den Stalin vortrug, steht das Folgende, zunaechst zum damaligen Stand der Dinge: 

"Die erste Frage ist die nach dem Zustand der Produktion und des Handels in den groessten kapitalistischen Laendern ... die grundlegende Tatsache besteht darin, dass die Produktion ... ueber den Vorkriegsstand hinausgegangen ist ... Der Index der Weltproduktion von Stahl lag ... 1926 bei 1226 Prozent der Vorkriegleistung ... Kohle 96,8 Prozent ... Baumwolle ... 112,5 Prozent ... Die Welternte von fuenf Getreidesorten ... 1927 ...112,3 Prozent der Vorkriegsernte. So kommt der Gesamtindex der Weltproduktion langsam, in kleinen Schritten voran. ...
Dafuer gibt es aber einige kapitalistische Laender, die nicht vorwaertsschreiten, sondern vorwaertsspringen ..., so zum Beispiel die Vereinigten Staaten von Amerika und in geringerem Mass auch Japan. Einige Angaben ueber die Vereinigten Staaten ... Die Produktion der verarbeitenden Industrie war --- im Jahr 1926 auf 152 Prozent, die der Grundstoffindstrie auf 154 Prozent des Vorkriegsstandes gestiegen. ...
Das Wachstum des internationalen Handels: Der Welthandel waechst nicht so rasch wie die Produktion, ... Der Index des Aussenhandelsumsatzes ... in den wichtigsten Laender lag ... 1926 bbei 97,1 Prozent des Vorkriegsumsatzes ... Vereinigte Staaten ... 143 Prozent ... Frankreich ... 99,2 Prozent ... Deutschlands ... 73,6 Prozent, Japan ... 170,1 Prozent.
Schliesslich eine dritte Reihe von Tatsachen, die von dem technischen Fortschritt, von der Rationalisierung der kapitalistischen Industrie, von der Schaffung neuer Wirtschaftszweige, von verstaerkter Vertrustung, von verstaerkter Kartellierung der Industrie im internationalen Massstab sprechen ... Ich stelle fest ... dass das Kapital Erfolge aufzuweisen hat nicht nur hinsichtlich des Wachstums der Produktion und des Handels, sondern auch auf dem Gebiet der Verbesserung der Produktionstechnik, auf dem Gebiet der Rationalisierung der Produktion, wobei dies alles zu einer weiteren Staerkung der grossen Truste und zur Gruendung neuer, maechtiger monopolistischer Kartelle gefuehrt hat."

Konstatiert wird also eine erfolgreiche Entwicklung des Kapitalismus. Bis zu dieser Stelle konnte jeder buergerliche Volkswirtschaftsexperte Beifall klatschen und triumphieren: Habt ihr endlich eingesehen, ihr verstockten Kommunisten, dass die freie Marktwirtschaft die beste aller Welten, ach die einzig moegliche Welt ist ?! Sie selber nahmen ja die beobachteten Erscheinungen als Beleg fuer eben diese Behauptung, ganze so wie ihre heutigen Nachfolger die "Globalisierung" fuer eine einzige Erfolgsgeschichte hielten.

Im Rechenschaftsbericht der KPdSU wird jetzt allerdings der blick auf die problematischen Seiten der Angelegenheit gerichtet. Stalin nimmt das Resumee gleich vorweg:


"Bedeutet das alles, dass die Stabilisierung des Kapitalismus damit fest, dass sie dauerhaft geowrden waere ? Natuerlich nicht ! ...

Aus der teilweisen Stabiliserng waechst eine Verschaerfung der Krise des Kapitalismus, die anwachsende Krise legt die Stabilisierung in Truemmer . das ist die Dialektik der kapitalistischen Entwicklung im gegebenen historischen Moment."


"Bloedsinn" haetten anwesende Volkswirtschaftsprofessoren an der Stelle bloss sagen koennen, "Was redet der Kerl fuer ein Blech ! Er muss sich wohl was vormachen, damit er sich seinen kommunistischen Glauben bewahren kann ?!" - Gerade so reden die heutigen Professoren auch, wenn sie die Behauptungen der Linken, der Kapitalismus mache eine Systemkrise durch, "widerlegen" wollen.


Stalin kommt auf die Gruende fuer seine Behauptung zu sprechen:


"... Am charakteristischsten ... ist die Tatsache, dass die Entwicklung ungleichmaessig vor sich geht. Die Entwicklung verlaeuft nicht so, dass die kapitalistischen Laender eins nach dem andern vorwaerts eilen, ruhig und gleichmaessig, ohne einander zu stoeren und niederzurennen, sondern umgekehrt - auf dem Weg der Verdraengung und des Niedergangs der einen Laender, auf dem Weg des Vorrueckens und Emporkommens der anderen, als ein Kampf auf Leben und Tod, der von den Kontinenten und Laendern um die Vorherrschaft auf dem Markt gefuehrt wird.

Das Zentrm der Wirtschaft verlagert sich von Europa nach Amerka, vom Atlantischen zum Grossen (Pazifischen) Ozean. Dadurch waechst der relative Anteil Amerikas und Asiens am Welthandelsumsatz auf Kosten Europas.

Einige Zahlen: Waren 1913 Europa am Welthandel mit 58,8 Prozent,  Ametrika mit 21,2 Prozent und Asien mit 12,3 Prozent beteiligt, so ist 1925 der Anteil Europas auf 50 Prozeznt gesunken, dagegen der Anteil Amerikas auf 26.6 Prozent und der Asiens aus 16 Prozent gestiegen. Neben den Laendern mit vorwaerststuermendem Kapitalismus (Vereinigte Staaten und ... in geringerem Mass Japan) haben wir Laender des wirtschaftlichen Niedergangs (England). Neben dem erstarkenden kapitalistischen Deutschland und den in den letzten Jahren emporgekommenen und weiter aufsteigenden Laendern (Kanada, Australien, Argentinien, China, Indien) haben wir Laender eines sich stabilisierenden Kapitalismus (Frankreich, Italien). Es waechst die Zahl der Praetendenten auf Absatzmaerkte, es wachsen die Produktiosmoeglichkeiten, es waechst das Angebot, der Umfang der Maerkte aber und die Grenzen der Einflusssphaeren bleiben mehr oder weniger stabil.

Das ist die Grundlage fuer die wachsenden unversoehnlichen Widersprueche des modernen Kapitalismus.

Dieser Widerspruch zwischen den wachsenden Produktionsmoeglichkeiten und der relativen Stabilitaet der Maerkte ist der Grund dafuer, dass das Problem der Maerkte jetzt das Hauptproblem des Kapitalismus ist.

Verschaerfung des Problems der Absatzmaerkte im Allgemeinen, Verschaerfung des Problems der Auslandsmaerkte im Besonderen, Verschaerfung des Problems der Maerkte fuer Kapitalexport im Einzelnen - das ist der jetzige Zustand des Kapitalöismus. ... Und es belibt ein einziger Ausweg: eine Neuverteilung der Kolonien und Einflusssphaeren auf dem Wege der Gewalt, auf dem Wege militaerischer Zusammenstoesse, auf dem Wege neuer imperialistischer Kriege ..."

Es ist fuer uns Heutige eine einfache geschichtliche Tatsache,, dass es genau so gekommen ist, wie die Kommunisten 1927 prognostizierten. Darueber kann man leicht darueber hinweggehen, wie sensationell genau sie die weitere Entwicklung voraussahen. Alles schien in guter Ordnung zu sein. Der Gedanke, Nazi-Deutschland koenne ein gutes Jahrzehnt spaeter einen Weltkrieg anfangen, konnte 1927 leicht laecherlich erscheinen. Das Land aechzte noch unter den Reparationsschulden und dem Vetrag von Versailles, die Recihswehr war von den Siegermaechten des I. Weltkriegs noch auf hunderttausend Mann beschraenkt. - Und ein Jahrzehnt spaeter sollte dieses Deutschland die staerksten Maechte auf dem Planeten herausfordern koennen ?! - Wir wissen heute, dass genau das passiert ist. Aber nachher kann man leicht klug sein. Die sowjetischen Kommunisten waren aber im Vorhinein klug.

Wie haben sie das hingekriegt ?

Instrumentarium

Das Erkenntnisinstrumentarium, das sie benutzten, war die auf Marx basierenden polit-oekonomische Wissenschaft. Die war damals "im buergerlichen Lager" nicht weniger in Verruf als heute. Von ihrer Verwendung wurde damals nicht weniger abgesehen als heute. Und heute kommt vielleicht hinzu, dass sich die Kommunisten im weiteren Verlauf  des Jahrhunderts einige theoretische Schnitzer und praktischen Desaster geleistet haben. Wie war das mit der Parole "Von der Sowjetunion lernen, heisst siegen lernen !" ? Hat sich nicht letzten Endes herausgestellt, dass von der Sowjetunion zu lernen verlieren zu lernen hiess ? In diesem Sinn waere Etliches aufzufuehren, und natuerlich wird jeder Fehler vom "buergerlichen Lager" mit dankbarer Erleichterung zur Kenntnis genommen und weidlich ausgeschlachtet. Die Damen und Herren sollten allerdings, der intellektuellen Redlichkeit wegen, lieber nicht mit Steinen schmeissen, weil sie selber und auf noch ganz andere Weise im Glashaus sitzen. Sie schmeissen trotzdem - so viel zu ihrer intellektuellen Redlichkeit.

Wie ist das nun ?  Einerseits hat die marxistische Gesellschaftsanlayse eine Menge hervorragender Ergebnisse zustande gebracht. Aber es gab auch einige Fehleinschaetzungen. Widerlegen letztere den wissenschaftlichen Charakter des Marxismus ?

Es ist mit der Politischen Oekonomie einfach wie mit jeder Wissenschaft. Ausnahmslos jede Wissenschaftsentwicklung ist von Fehlern begeitet. Der Irrtum gehoert sogar zur Entwicklung. - Auf der Basis des vorhandenen Wissensstocks werden ueber neu zu untersuchende Objekte oder Verhaeltnisse Thesen aufgestellt. Die koennen entweder richtig oder falsch sein. Gewoehnlich sind sie nicht das Eine oder das Andere, sondern eine Mischung davon. Indem die These an der Wirklichkeit ueberprueft wird, kann das Richtige vom falschen getrennt werden. Im Fall von Prognosen ueber gesellschaftliche Entwicklungen z.B. erweist die wirkliche Entwicklung das Mass von Richtig und falsch, die Ausgangsthese bestaetigt sich entweder oder sie muss modifiziert oder verworfen werden. Anders als der Chemie oder Physik steht den Wissenschaften von der Gesellschaft nicht das Mittel des Experiments zur Verfuegung. Zu untersuchende Verhaeltnisse koennen nicht kuenstlich isoliert, entsprechend der Fragestellung angeordnet und mehr oder weniger saeuberlich vom groesseren Zusammenhang getrennt untersucht werden. Das ist aber nichts weiter als ein besonderer Umstand des Untersuchungsprozesses, der an dessen wissenschaflichem Charakter nichts aendert, sondern nur nach angemessenen spezifischen Methoden verlangt.

Wie jede andere Wissenschaft ist auch die marxistische Politische Oekonomie mit gesellschaftlichen Interessen verknuepft. In Naturwissenschaften wie Physik und Chemie wird z. B. die Forschung nicht allein von der inneren Logik der Wissenschaft bestimmt, sondern, unter kapitalistischen Verhaeltnissen, auch davon, ob die Ergebnisse sich moeglicherweise profitabel verwerten lassen. Der "Trend" der Forschungsrichtung geht also in diese Richtung. Die marxistische Politische Oekonomie ihrerseits ist von dem Zweck geleitet, die Interessen der Arbeiterklasse zu foerdern. Der "Blickwinkel" der Politischen Oekonomie hat diesen Ausgangspunkt, und insofern ist sie "parteilich".

Solche gesellschaftlichen Einfluesse sind unvermeidlich. Die Wissenschaften sind nichts von der Gesellschaft Getrenntes, sie hausen nicht in einem Elfenbeinturm. Diese Einfluesse haben auch nicht durchwegs hemmenden Charakter, sondern sind ein Antrieb: Die Gesellschaft - auf dieser Ebene egal, ob Kapitalisten- oder Arbeiterinteresse - erwartet anwendbare Ergebnisse. Gleichzeitig bringen diese Einfluesse allerdings auch ein subjektives Moment in jede Wissenschaft, dessen sich die Wissenschaftler gewaertig sein muessen und mit dem sie umgehen muessen. Die Leugnung dieses Umstands, das Wegwuenschen und das Ideal der "aboluten Unparteilichkeit" und "Wertfreiheit" sind der sicherste Weg, die Wissenschaft solchen Einfluessen unreflektiert auszuliefern und im Ergebnis nicht mehr zwischen Wissenschaft und (Herrschafts-)Ideologie unterscheiden zu koennen, wie das z. B. in der buergerlichen Volkswirtschaft weithin der Fall ist.

Obwohl also Wissenschaft keine von jedem Interesse unabhaengige Wahrheit hervorbringt - wer das behauptet, taeuscht sich oder schwindelt - , sondern auf die menschliche Gesellschaft bezogene Wahrheiten, ist sie im Vergleich zu anderen Erkenntnismethoden ein Qualitaetssprung. Sie ist in ihren Moeglichkeiten, die Wirklichkeit im menschlichen Gehirn gewissermassen abzubilden, sowohl dem sogenannten gesunden Menschenverstand als auch den spekulativen Methoden der Religionen und des philosophischen Idealismus im Allgemeinen in einem Mass ueberlegen, dass jeder Wissenschaftler der privat den letzteren anhaengt, in Ausuebung seines Berufs "automatisch" den Standpunkt des philosophischen Materialismus einnehmen muss, weil ihn seine Wissenschaft dazu zwingt. - Denn das ist das grundlegendste Axiom jeder Wissenschaft und gleichzeitig das Scheidungsmittel von anderen Erkenntnismethoden: die Annahme, dass es eine objektive Wirklichkeit unabhaengig von der menschlichen Anschauung gibt, und dass diese vom menschlichen Gehirn erfasst und gewissermassen darin gespiegelt werden kann. Ein wichtiges Wahrheitskriterium dafuer ist die praktische Bestaetigung von Thesen und Prognosen. Wenn eine Prognose eintritt oder wenn wir eine theoretische These praktisch verifizieren koennen, bestaetigt das jedesmal das Grund-Axiom "materielle Realiaet - deren Abbildbarkeit im menschlichen Denken".

Die Gesellschaftswissenschaften sind nicht alle gleich ...

Jetzt haben wir also eine Weltwirtschaftskrise. Worin besteht sie ? Welche Gruende hat sie ? Welche Folgen hat sie fuer wen ? Wie wird das ausgehen ? Die Fragen sind ziemlich dringlich.

Wer kann sie beantworten ?

Wir ! behaupten die buergerlichen Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler.

Wir ! behaupten die Marxisten.

Wem ist zu trauen ?

Einer Antwort auf diese letztere Frage kann man sich, ohne den Vorbehalt der kritischen Hinterfragung der jeweiligen Behauptungen aufzugeben, ueber einen Umweg naehern: Was haben die Leute in der Vergangenheit behauptet, und in welchem Verhaeltnis stehen diese Behauptungen zu dem, was tatsaechlich passiert ist ?

Uber die gegenwaertige Krise wird vieles gesagt. Die meisten Menschen sind ueber sie eher verwirrt als klar. Das Verwirrungsgeschlinge hat etliche Hauptstraenge. Einer ist die Behauptung, es sei etwas schief gelaufen, es seien Fehler gemacht worden. Ein anderer: Jetzt seien die Regierungen gefragt, sie muessten und koennten es richten. Sie muessten die Fehler abstellen und Regelungen treffen, die sowas in Zukunft verhindern. Ein dritter, oft stillschweigend als selbstverstaendlich vorausgesetzter Strang ist: Die Krise sei zwar schwer, aber voruebergehend, und nachher werde es wieder aufwaerts gehen und werde die Krise beendet sein. In -zig Varianten und Kombinationen behaupten das alle buergerlichen Experten.

Die Marxisten behaupten etwas anderes: Die Krise sei gar nicht die Folge von Fehlern, sondern der gewoehnliche Verlauf des Kapitalismus, zu dem Krisen genau so gehoeren wie Phasen der Prosperitaet. Krisen seien im Kapitalismus nicht vermeidbar, weder durch Regierungsmassnahmen noch durch beliebige andere Mittel.

Ein Rueckblick auf die bisherige Geschichte des Kapitalismus spricht fuer die Behauptungen der Marxisten. Seit es Kapitalismus gibt, gibt es Krisen. Sie sind von unterschiedlicher Art. Es gibt Ueberproduktionskrisen, Finanzkrisen, regional oder sektoral beschraenkte und weltweite, die gesamte Wirtschaft und in der Folge die gesamte Gesellschaft erfassende, zyklische und strukturelle. Ihre Dauer und Tiefe ist unterschiedlich. Viele werden von der Masse der Bevoelkerung kaum wahrgenommen, weil sie nur geringe Auswirkungen auf das taegliche Leben haben. Andere, wie die Ernaehrungskrise in den armen Weltregionen, werden nicht als Krise wahrgenommen, sondern als, wenn auch bedauerlicher, Normalzustand. Zyklische Krisen haben einen gewissen Rhytmus: Sie ereignen sich alle ca. sieben bis zwoelf Jahre. Strukturelle Krise koennen sich ueber laengere Zeitraeume anstauen und dann um so heftiger ausbrechen (wie die gegenwaertige Finanzkrise). Mit der geschichtlichen Erfahrung sind im Lauf der Zeit zahlreiche wirtschaftspolitische Instrumente erfunden worden, die Krisen "verschleppen", "verstetigen", chaotische Verlaeufe in gewissem Mass eindaemmen koennen.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herum verwandelte sich in den fortgeschrittensten Laendern der Kapitalismus der freien Konkurrenz in den Monopolkapitalismus/Imperialismus (Das sind im marxistischen Vokabular keine Schimpfworte, sondern wohldefinierte Begriffe. Monopolkapital ist Kapital, das in der Lage ist, aufgrund seiner Groesse und strategischen Stellung im Verwertungsprozess andere Kapitale von sich abhaengig zu machen und sich einen Teil deren Profite anzueignen, selber also einen Extraprofit zu erzielen. Der Begriff Imperialsmus verweist auf die mit innerer ("systemischer") Zwangslaeufigkeit mit dem Monopol verbundene Notwendigkeit, die Maerkte bestaendig zu erweitern, unter anderem auch mit staatlich-politischen Mitteln, darunter auch militaerischen.)

Mit der Herausbildung des Monopolkapitalismus/Imperialismus geraet die kapitalistische Gesellschaftsordnung als solche in ihre allgemeine Krise, in eine Epoche der allmaehlichen Erschoepfung und Zersetzung der dem Kapitalismus innewohnenden Triebkraefte. Diese Epoche ist die der hoechsten Entwicklung, der Reife dieser Gesellschaftsordnung, in der gleichzeitig die materiellen (vor allem produktionstechnischen) Bedingungen fuer den Uebergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung entstehen. Seitdem sind Krisen, gleich welcher Art, tendenziell immer enger mit dieser allgemeinen Systemkrise verbunden und ihr konkreter Ausdruck.

Die gegenwaertige Weltwirtschaftskrise ist deshalb eine solche, weil mehrere "Detailkrisen" gleichzeitig auftreten, miteinander verschmelzen und die Funktionsmechanismen der kapitalistischen Wirtschaft selbst erschuettern. Der innerste Grund solcher Krisen ist, dass das erreichte Niveau der Produktivkraftentwicklung - der Grad der Gemeinschaftlichkeit der Produktion und des wirtschaftlichen Lebens ueberhaupt - und das private Kommando der Kapitalbesitzer ueber diese Kollektivitaet immer mehr in Widerspruch zueinander geraten. Es koennen ungeheuere Mengen von Guetern erzeugt werden, aber sie sind, weil sie fuer den Markt produziert werden, nicht einfach Gueter, die zuerst erzeugt und dann eben verbraucht werden, sondern Waren - d.h., ihrem Verbrauch ist die Schranke der Zahlungsfaehigkeit gesetzt. Das bringt die Sache periodisch ins Stocken. Die Krisen stellen das "Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage" stets mehr oder weniger wieder her, aber mittels einer "Anpassung nach unten": Produktion wird stillgelegt, Lohnabhaengige werden entlassen, bis der Warenausstoss wieder einigermassen den wirklichen Moeglichkeiten des Verkaufs der Waren entspricht. - Die Krisen sind Vernichtung von Kapital, letzten Endes von Produktionspotential und Qualifikationen der Beschaeftigten. Solange die Produktionsmittel, vor allem die grossen, Privateigentum sind und daher Grund und Ziel der Produktion der Profit sein muss, mithin die Konkurrenz um die Maerkte, mithin der fuer die Kapitalisten unerbittliche Zwang, "immer groesser zu werden" und dadurch schwaechere Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen, ... sind Krisen unbermeidlich.

Fuer die Marxisten ist die gegenwaertige Krise keine Ueberraschung, sondern eine Bestaetigung der eigenen Thesen. Die buergerlichen Volkswirtschaftler stehen dagegen ziemlich dumm da. Ein Vergleich mit Eseln waere eine Beleidigung der Esel. Vermutlich wird eins der Resultate der Krise sein, dass der Volksmund nicht mehr sagt: "Du bist dumm wie ein Esel !", sondern: "Du bist dumm wie ein Wirtschaftsweiser !" - Was ist in den letzten Jahrzehnten nicht alles zusammengeschrieben worden ueber das Selbstregulierungspotential der Maerkte, deren unuebertroffene Allokationsfunktionen, ihr segensreiches Wirken fuer den ("letzten Endes" ...) Wohlstand aller Menschen, die Moeglichkeit, mittels "Makrosteuerung" die "wirtschaftlichen Gleichgewichte" in einem gedeihlichen Rahmen zu halten, etc.pp. ... Tja, Herr Professor, Frau Finanzgenie, ganz schoen dumme Sache dat, wa ?

Die Krise ist nicht nur ein Desaster der Wirtschaft. Sie ist auch ein Desaster fuer die buergerlichen Volkswirtschafts ... nunja:wissenschaften. Ihre apologetische Funktion gewaehrleistet, dass ihre Apparate und hochdotierten Posten erhalten bleiben. Aber als Wissenschaft haben sie sich - wenn auch nicht zum ersten Mal - in einem Mass diskreditiert, dass das Label Wissenschaft selbst zum Betrug wird. Das Markenprodukt ist seine eigene Produktpiratenimitation. Die Wissenschaftlichkeit ist zu einer billigen Religion verkommen, deren Pfaffen in ihren Predigten und Erbauungsschinken in immer neuen Variationen das immer gleiche, laengst hundertmal widerlegte, Glaubensbekenntnis illustrieren, das so schlecht funktioniert wie die nachgemachte Rollex. Was dem Schamanen seine Zauberknochen, sind dem "technischen Finanzanalysten" seine Kurvenschaubilder. Was dem Papst die jungfraeuliche Empfaengnis, ist dem Herrn Professor Unsinn der Markt.

Die buergerlichen Wirtschaftswissenschaften sind in ihren axiomatischen Aussagen, d.h. in dem, was sie "im Innersten zusammenhaelt" eine Leiche. Ihre Statistiken mag man, mit gebuehrender Vorsicht, verwenden, aber ihre Axiome sind falsch. Sie leiten sich aus einer Welt ab, die es gar nicht gibt, und ignorieren die wirkliche Welt. Sie muessen die Tatsachen dauernd vergewaltigen, um sie irgenwie im verschrobenen eigenen Weltbild unterzukriegen. Viel Geld macht es moeglich, die Leiche so kunstvoll zu balsamieren, dass ein fluechtiger Blick den Eindruck vermitteln kann, sie lebe noch. Bei naeherem Hinsehen bemerkt man jedoch, dass es bloss die Wuermer sind, die sich bewegen.

Die marxistische Politische Oekonomie ist dagegen recht lebendig. Sie hat die gegenwaertige Krise vorausgesehen und erfasst ihre Gruende. Sie ist einigermassen in der Lage, die Beziehungen und wechselseitigen Bedingtheiten von Oekonomie, Politik und Gesellschaft zu erfassen. Sie "schaut hinter die Kulissen" und benennt die inneren Triebkraefte der Ereignisse. Ihre Ergebnisse fliessen in die Politik fortschrittlicher Bewegungen und namentlich kommunistischer Parteien ein.

Als kleines Beispiel sei ein kleiner Ausschnitt aus den Thesen des XVII. Parteitags der Kommunistischen Partei Portugals zitiert:

"Die scharfe Offensive in der Ausbeutung und Aggression war in den letzten Jahren die herausragendste und bestaendigste Besonderheit in der interantionalen Lage. Diese Offensive ... hat  ihre Wurzeln im kapitalistischen System und seinen Widerspruechn selbst. Sie ist die Antwort der reaktionaersten Kreise des Big Bussiness auf die Krise, die das kapitalistische System durchmacht. ...
Dem Kaptalismus stehen weiterhin gewaltige Ressourcen
und ausgefeilteMittel fuer das weltweite und regionale Krisenmanagement und die Expansion der Maerkte zur Verfuegung. Aber die Lage der Weltwirtschaft ist, mit wachsender Tendenz, instabil und die kapiatlistischen Ungelichgewichte und Widersprueche wachsen weiter an. ..."


Dieser Befund stammt aus dem Jahr 2004. Die Finanzkrise des Jahrtausendanfangs war zu dem Zeitpunkt seit etwa zwei Jahren ueberwunden. Die buergerlichen Experten sprachen unisono vom neuen Aufschwung. Die Aktienkurse stiegen schon wieder hurtig und taeglich wurde mindestens ein neues innovatives komplexes Finanzinstrument erfunden. Die Wachstumsraten hatten sich erholt. - Aber die portugiesischen Kommunisten sprachen von Krise. - Unglaubwuerdig ? 


Die Diagnose wird in den portugieschen Thesen ausfuehrlich begruendet. Hier sollen nur ein paar Saetze wiedergegeben werden:


"In den entwickelsten kapitalistischen Regionen hat sich die Tendenz zum tertiaeren Sektor (Dienstleistungssektor)

Es handelt sich um einen bestaendig wirkenden Prozess, in dessen Verlauf Ueberraschungen und Verschiebungen moeglich sind: in der Machtbalance zwischen en verschiedenen imperialistischen Zentren und in ihren Wahrungsbeziehungen, beim Streben nach Kontrolle der beschraenkten Energie-Ressourcen des Planeten, bei der Aufteilung der (wechselseitigen) Zugestaendnisse bei der Ueberwindung der Krise und bei der Loesung der gewaltigen Probleme des US- und  Weltkapitalismus, bei der Aufteilung der Ressourcen und Maerkte. ..." 

Das sind Aussagen aus dem Jahr 2004. Mittlerweile hat sich Manches bestaetigt. Und die Prognosen "im Hinterkopf" zu behalten, wenn man die gegenwaertige Krise anschaut, ist nuetzlicher als die eloquentesten Kommentare der illustresten Nobelpreistraeger.

 

Uebrigens haben die portugiesischen Kommunisten mittlerweile ihren naechsten Parteitag abgehalten, im Dezember 2008, und ihre Einschaetzungen anhand des neuesten Tatsachenmaterials aktualisiert. Das kann im Internet nachgelesen werden, ebenso wie -zig Dokumente anderer kommunistischer Parteien. Das Meiste ist, im wahrsten Sinn des Wortes, erhellend.




  

 und zur teilweisen Desindustrialisierung verstaerkt. Arbeitsintensive Produktionen werden zunehmend in die kapitalistische Peripherie verlagert. Die Einkommensunterschiede und die Armut wachsen. Millionen Menschen sind von der Befriedigung ihrer grundlegendsten Beduerfniss ausgeschlossen. und werden in Emigration und  unter unmenschliche Bedingunge gezwungen.
Die Schwierigkeit, in der Produktionssphaere hinreichende Profitraten zu erzielen - die das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate bestaetigt - traegt zur Dominanz des Finanzkapitals und seiner Expansion bei. ..."

Die chaotische Ungleichmaessigkeit der kapitalistischen Entwicklung in den verschiedenen Regionen, die immer weiter aufklaffende Schere zwischen den beschraenkten Konsummoeglichkeiten der Lohnabhaengigen infolge des Zurueckbleibens der Loehne hinter dem Warenangebot, die zunehmende Dominanz des Finanzkapitals ueber Produktion und Verteilung und die Unterwerfung dieser Sektoren unter die Logik des Kapitalhandels - all dies wirkte "hinter" der scheinbaren Prosperitaet des Jahres 2004 und bereitete die naechste akute Krise vor. Und all die buergerlichen Experten sahen daswieder einmal nicht oder wollten es nicht sehen. Nach einer kurzen Phase der Niedergeschlagenheit waehrend der Finanzkrise 2000 - 2002 enthusiasmierten sie schon wieder ueber die angeblichen grenzenlosen Faehigkeiten der "Marktwirtschaft", "Wohlstand zu schaffen". Sie liessen sich wieder einmal blenden (oder logen), waehrend die Kommunisten ins Auge fassten, was kommen wuerde und musste.

Die Thesen der PCP des Jahres 2004 enthalten einen Ausblick. Unter anderem ´wird die weitere Entwicklung der Widersprueche zwischen den imperialistischen Zentren und Hauptlaendern prognostiziert:

Die inner-imperialistische Koordination und die Rivalitaeten sind zwei voneinander nicht trennbare Aspekte des kapitalistischen Systems, die wir sorgfaeltig beobachten muessen, um in jedem gegebenen Augenblick jeweils bestimmen zu koennen, welcher jeweils vorherrschend ist und wie das jeweilige Kraefteverhaeltnis ist. Es gibt viele akute Interessenkonfikte, vom Oel bis zu den Kommunikationssystemen, von Waffenproduktion und -handel bis zum Echolon-Spionagesystem. Die Auseinandersetzungen ueber die oekonomische, politische und militaerische Kontrolle grosser Gebiete, wie Osteuropa, Mittlerer Osten, Zentralasien und viele andere, geht weiter . ...
Es handelt sich um einen bestaendig wirkenden Prozess, in dessen Verlauf Ueberraschungen und Verschiebungen moeglich sind: in der Macht-Balance zwischen den verschiedenen imperialistischen Tentren und ihren Waehrungsbeziehungen, beim Streben nach Kontrolle der beschraenkten Energie-Ressourcen des Planeten, in den wechselseitigen Zugestaendnissen fuer die Ueberwindung der Krise und angescihts der gealtigen Probleme des US- un Weltkapitalismus, bei der Aufteilung der Ressourcen und Maerkte, ..."

Das sind Aussagen aus dem Jahr 2004. Manches hat sich inzwischen bestaetigt, Der Rest ist ernstzunehmen. Micht nur ein paar Saetze zu lesen, sondern desn ganzen Text, schafft mehr Durchblick als die elouqentesten Kommentare jedes beliebigen Professor Unsinn. Man kann das, und -zig andere Dokumente anderer kommunistischer Parteien im Internet lesen. Das meiste davon ist erhellend. 

Veröffentlicht in Weltwirtschaftskrise

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Hallo Stefan WehmeierDen Kommentar konnte ich zwar in der mail-Benachrichtigung von overblog lesen, aber auf meinem Blog erscheint er nicht. Es liegt nicht an mir. Da die Leser des Blogs Deinen Kommentar nicht lesen koennen, kommentiere ich ihn zunaechst auch nicht.
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S
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