Alfredo Bauer - Arzt, Schrifsteller, Kommunist

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Mit Blick auf die Morgenröte

Literatur. Alfredo Bauers Romanzyklus »Die Vorgänger«. Über ein Buch und seinen Verfasser

 

Von Erich Hackl

 

Vor sechzehn Jahren leitete ich eine Lesung Alfredo Bauers mit dem Versprechen ein, den Anwesenden einen schrecklich altmodischen Freund vorzustellen. Das Anliegen ist mir seither abhanden gekommen, einmal, weil ich mich selbst, gemäß der damals getroffenen Definition – altmodisch sei, wer unerschütterlich am aufklärerischen und sittlichen Gehalt des geschriebenen Wortes festhält –, als solcher erkennen muß, zum andern, weil es nicht mehr notwendig ist, den Leuten einzutrichtern, daß sie gefälligst einen aus Wien vertriebenen Schriftsteller, der seinem Zufluchtsland Argentinien ebenso tief verbunden ist wie einst der DDR und zugleich internationalistisch wie kaum jemand sonst, zur Kenntnis nehmen mögen.


Arzt, Schriftsteller, Kommunist: Alfredo Bauer Foto: Cristina Timón Solinís



Ich will damit nicht sagen, daß wir nicht weiterhin in einer Gesellschaft leben, die immer wieder die eigenen Versäumnisse beklagt und darüber ganz vergißt, sie auch zu überwinden. Aber immerhin hat sich hinsichtlich der Präsenz von Alfredos Schriften einiges zum Besseren gewandt. Wer will, kann sich drei Romane, einen Band mit Erzählungen, die autobiographisch gefärbte Lebensbilanz »Eine Reise«, die »Kritische Geschichte der Juden«, eine Szenenfolge über 2000 Jahre jüdisches Schicksal mit dem Titel »Anders als die anderen«, das Buch »Mythen-Szenen« und zwei frühe Kleinkunststücke Alfredos besorgen und, mit etwas Glück, auch noch eine Sammlung seiner Chroniken und Aufsätze aus Argentinien erwerben. All diese Bücher sind in österreichischen, Schweizer und deutschen Verlagen erschienen. Die Oper »Aus allen Blüten Bitternis«, über Stefan Zweigs letzte Tage in der brasilianischen Verbannung, ist 1996 in der Wiener Kammeroper uraufgeführt worden. Alfredo Bauer ist längst kein Unbekannter mehr, und er hat vor zehn Jahren, mit dem Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil, jene Auszeichnung zugesprochen erhalten, die ihm und seinem Werk angemessen ist: kein Dutzendpreis, keine billige Heimholung, sondern eine Ehrung, die bindend ist, vor allem für diejenigen, die sie vorgenommen haben.

Mitten im Leben

Nur seltsam, daß seine fünfbändige Familiensaga, die 1848 in der slowakischen Kleinstadt Topolczanyi einsetzt und ein gutes Jahrhundert später in Buenos Aires endet, so lange verschollen gewesen ist. Bauer hatte sie zwischen 1976 und 1985, also in den schlimmsten Jahren der argentinischen Geschichte, auf spanisch veröffentlicht. Die ersten beiden Bände, »Verlorene Hoffung« und »Trügerischer Glanz«, sind zwar Mitte der achtziger Jahre auch auf deutsch erschienen, im Ostberliner Verlag der Nation, aber seit der Abwicklung der DDR vergriffen. Ich bin mir gar nicht sicher, ob ihr Verfasser sie, wie ich, als sein Hauptwerk ansieht, ja, ob er überhaupt einen Gedanken daran verschwendet, was ihm denn nun, literarisch gesehen, besonders gut gelungen sei; er steht, gegen Ende seines neunten Jahrzehnts, weiterhin mitten im Leben, nimmt regen Anteil an den politischen Veränderungen in Argentinien, in Lateinamerika, auf der ganzen Welt, kommentiert das nationale und internationale Geschehen im Radio, hat gerade seine Erinnerungen fertiggestellt, übersetzt, was ihm übersetzenswert erscheint (zum Beispiel zwei gewaltige Werke der Weltliteratur, das argentinische Nationalepos »Martín Fierro« von José Hernández und das »Buch von guter Liebe« des spanischen Arcipreste de Hita), und straft das eigene Resümee Lügen, das er selbst, unter dem Eindruck der Umwälzungen in den Ländern des realen Sozialismus, seinerzeit getroffen hatte: »Ich bin heute ruhiger, seitdem – zumindest für Europa – nichts mehr zu erhoffen ist, und für die Neue Welt bestenfalls (bestenfalls: wohin ist es mit uns gekommen, daß wir da ›bestenfalls‹ sagen müssen!) eine maßlos blutige Auseinandersetzung.« Der von ihm so genannte »Alters­trost« – daß er immerhin von sich behaupten darf, nie Verfolger, immer nur Verfolgter gewesen zu sein – gilt insofern nicht mehr, als seit Beginn des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika, auch in Argentinien selbst, politische Entwicklungen stattgefunden haben, die ihm hinreichend Anlaß bieten, dem »Optimismus des Herzens« zu frönen.

Verbindungen

Alfredos österreichisch-jüdische Familiensaga stellt schon mit dem Originaltitel »Los compañeros antepasados« und dem vorangestellten Zitat von Fidel Castro die Verbindung zwischen Herkunftsland und Zufluchtskontinent her: »Wir wären damals wie sie gewesen. Sie wären heute wie wir.« Wie kaum ein anderer Exilschriftsteller hat er den durch den Nazismus erzwungenen lebensgeschichtlichen Bruch als Chance wahrgenommen, was nicht heißt, daß er die Katastrophe, auch für seine Angehörigen, verschwiegen hätte oder verschweigen würde. Auch nicht die politischen Niederlagen zuvor, die, wie im Titel des ersten Bandes, immer wieder in eine »Verlorene Hoffnung« mündeten. Es ist die Zuversicht, die Alfredo zum Schreiben gebracht hat und am Schreiben hält, sein Glaube an die Kraft des geschriebenen Wortes und natürlich auch die Überzeugung, daß selbst die Niederlage wirkungsmächtig werden könne. Die »compañeros antepasados«, das sind eben nicht die vergangenen Gefährten, sondern die, die uns vorangegangen sind, die vor uns, früher als wir, versucht haben, Gerechtigkeit zu schaffen, soziale Gleichheit zu erkämpfen. Ihr Bemühen liegt also vor, nicht hinter uns. Ich glaube, es ist diese Deutung der Geschichte, die Alfredo und mich verbindet und unsere Freundschaft, über manch Meinungsverschiedenheit hinaus, nur immer inniger hat werden lassen.

»Vielleicht«, so Alfredo, »begann alles mit den Notizen meines Urgroßvaters, die ich auf abenteuerliche Weise erhielt. Das wurde von Verwandten drüben [also in Österreich] vor ihrer Deportation versteckt und mir von Überlebenden nach der Rückkehr aus dem KZ übergeben. Es war Material aus 1848, auch Briefe meiner Ururgroßmutter. So begann ich zu schreiben, und dann blieb ich schon dabei.« »Los compañeros antepasados« ist der Versuch, die Geschichte einer jüdischen Bürgerfamilie als Geschichte Österreichs, umgekehrt die Geschichte dieses Landes als Geschichte einer jüdischen Familie zu schreiben. Dafür hat Alfredo die Möglichkeit des Berichts, der Chronik, der historischen Reportage verworfen. Ein allwissender, aber von Zweifeln nicht freier Erzähler folgt den Spuren eines Revolutionärs von 1848, des Medizinstudenten und späteren Papierfabrikanten Adolf Baiersdorf, seiner Kinder und Kindeskinder durch die letzten Jahrzehnte der Monarchie; mit der Ausrufung der Ersten Republik endet der vierte Band, »Feuerprobe«. Und mit dem Ende der alten Ordnung bricht auch die Romanform ab. »Neue Welt«, der fünfte und letzte Band, besteht aus 28 Erzählungen, eigentlich Episoden aus den Jahren vor und nach der Vertreibung aus Wien. Aber diese Episoden lesen sich wie Fragmente eines epischen Romans, den ihr Autor aus Ungeduld, oder weil er davor zurückschreckte, sich allzu nahe an die eigene Gegenwart heranzuschreiben, nicht mehr in eine geschlossene Form gebracht hat. Mir scheint, daß er mit »Verjagte Jugend«, seinem vor acht Jahren veröffentlichten Roman, diesen Zyklus fortgeschrieben und zu einem gültigen Abschluß gebracht hat.

Zwischen zwei Epochen

Die spezifischen Probleme eines solchen Unternehmens sind mir nicht fremd: Alfredo mußte, für eine Familiengeschichte, die sich inmitten politischer Vorgänge entfaltet, immer auch beschreiben und kommentieren, was sich gesellschaftlich ereignet, die »große Geschichte« also mit dem Nahen, Familiären zusammenbringen. Er konnte, zumal bei einem argentinischen Publikum, keine intime Kenntnis der österreichischen und deutschen Zeitgeschichte voraussetzen. Ins Positive gewandt, bieten sich die Romane als Geschichtsbücher an. Man erfährt Historie, wird nicht nur unterhalten und gespannt, sondern auch informiert. Und dann gibt es wieder Stellen, die die Gegenwart des Lesers, der Leserin aufreißen, in ihnen was freisetzen. Einmal, im zweiten Band, treffen Adolf Baiersdorf und Adolf Fischhof einander wieder, drei Jahrzehnte nach den Revolutionstagen von 1848. Zwei ältere Männer, von denen der eine dem andern dafür dankt, ihn aufgesucht zu haben. »Wer zwischen zwei Epochen steht – und das werden Sie wissen –«, sagt Fischhof, »ist sehr einsam.« Und ein paar Seiten früher läßt Alfredo Baiersdorfs Freund Peter Stransky auf die Frage, ob er vom Volk enttäuscht sei, antworten: »Wenn ich vom Volk enttäuscht wäre, wäre ich von der Welt enttäuscht. Das ist es nicht, Adolf. Unsere Epoche hat mich enttäuscht. Wenn die Leute einen Ausblick sähen, würden sie etwas unternehmen. Mit Begeisterung und Heroismus, genau wie achtundvierzig. Man hat sie besiegt, aber sind dadurch etwa die Gründe für die Revolution verschwunden? Wer konnte denn annehmen, daß die da oben die Lage stabilisieren werden? Und doch – sie konnten es! Die Welt läuft weiter, verjüngt sich, aber die Gesellschaft ändert sich nicht. Ein und dasselbe Jammertal! Und die Leute nehmen es hin, protestieren nicht einmal. Adolf, werden wir in der Nacht sterben, ohne die Morgenröte gesehen zu haben?«

Ich gestehe, ich bin versucht, mich in diesem Peter Stransky wiederzufinden, und Alfredo in Baiersdorf. Aber ich will ihm die Frage nach der Morgenröte nicht stellen, eingedenk Baiersdorfs Gram darüber, »daß ihn alle zum Mitwisser ihrer Qualen und Sorgen machen«. Statt dessen ist es hoch an der Zeit, Alfredo zu danken, für die lange Freundschaft, die, munter weiterwuchernd, mittlerweile ein paar Dutzend Menschen und drei Generationen einschließt. Die beste Art, einem Schriftsteller Dank abzustatten, ist hinlänglich bekannt. Nun denn, man möge mir folgen, diesen Brocken von Buch zur Hand nehmen, es aufschlagen und zu lesen beginnen, von vorn oder mittendrin: »Die Geschichte verzeiht niemals, wenn eine historische Gelegenheit versäumt wird.«

 

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Alfredo Bauer : Die Vorgänger - Romanzyklus. Verlag der Theodor-Kramer-Gesellschaft, Wien 2012, 767 Seiten, 36 Euro * Aus dem Spanischen von Alfredo Bauer und Christiane Barckhausen. Hrsg. von Monika Tschuggnall. Eine Neuauflage von Alfredo Bauers längst vergriffenem Zweibänder »Kritische Geschichte der Juden« ist in Vorbereitung und wird voraussichtlich im Herbst im Neue Impulse Verlag, Essen, erscheinen

Erich Hackl lebt als Schriftsteller und literarischer Übersetzer in Wien. Zuletzt erschien von ihm »Familie Salzmann. Erzählung aus unserer Mitte«, Diogenes, Zürich 2010

 

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Ein ererbter Auftrag

Wir veröffentlichen, mit freundlicher Genehmigung des Autors, einen Auszug aus seinen noch nicht in Buchform erschienenen Lebenserinnerungen, in dem er auf die Entstehung des Romanzyklus’ »Die Vorgänger« eingeht

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Nun sind ja die materiellen Sorgen nur dann ohne Bedeutung, wenn man sie nicht hat. Wenn man sie hat, können sie nicht nur die Lebensfreude beeinträchtigen, sondern auch jede Lust am geistigen Schaffen und überhaupt die Fähigkeit zu schöpferischer Arbeit zerstören. Ich hatte mich auch, als ich als Arzt aktiv war, daneben schriftstellerisch betätigt; jetzt aber wurde das zu meinem echten, eigentlichen Beruf. Und ich fand damit auch – mag das nun ein Zufall sein oder nicht – jetzt ein viel breiteres Publikum. Allerdings ist es ein Glück, das nur sehr wenigen Menschen zuteil wird, daß sie, nachdem sie ein halbes Jahrhundert lang einen nützlichen, befriedigenden und geachteten Beruf ausgeübt haben, im Alter dann noch einen ganz anderen Beitrag leisten können, der ebenfalls befriedigend, nützlich und geachtet ist.

Daß meine Tante Anna, die ältere Schwester meiner Mutter, mit ihrem Mann, dem General, im Konzentrationslager gewesen war, habe ich wohl schon erzählt. Sie hatten das überlebt; wohl deshalb, weil sie bis zum Schluß in Theresienstadt, einem Lager für »Prominente« waren. Als sie von der Sowjetarmee befreit worden waren, kamen sie nach ­Wien zurück, besuchten aber dann ihre Tochter Erika, die mit ihrer Familie in den Vereinigten Staaten lebte. Dort starb mein Onkel, und die Tante kehrte nach ­Wien zurück. Ein Jahr später aber machte sie eine weitere Reise: nach Argentinien, um uns und wohl auch das Grab ihrer Mutter zu besuchen. Bei der Gelegenheit brachte sie ihrem Neffen, von dem sie wußte, daß er sich mit Geschichte und Literatur beschäftigte, ein seltsames und höchst wertvolles Geschenk.

Es war ein Register der politischen Ereignisse des Revolutionsjahres 1848, das ihr Großvater Adolf Baiersdorf, der Zeuge und Teilnehmer des revolutionären Geschehens gewesen war, angefertigt hatte. Mit dem Gänsekiel hatte er dieses Register geschrieben und dann einbinden lassen. Meine Tante hatte es, als sie schon wußte, daß sie deportiert werden würde, versteckt und nach ihrer Rückkehr aus dem KZ wiedergefunden.

Was soll man mit einer solchen Reliquie anfangen? Für mich war es nicht nur etwas Hochinteressantes und nicht nur eine Auszeichnung, daß es nun gerade mir anvertraut wurde, sondern auch ein Auftrag. So etwas durfte man nicht für sich behalten, sondern man mußte, was es enthielt, weitergeben. Wie aber? Bei den trockenen politischen Tatsachen durfte es nicht bleiben. Die bildeten ja nur das Skelett des wirklichen Geschehens in jenem Schicksalsjahr. Ich meinte, daß das Fleisch, das doch an den Knochen gewesen war, eher durch die Intuition beigefügt werden konnte als durch weitere, trockene historische Forschung. Und so schrieb ich darüber einen Roman. Meinen ersten Roman!

Ich schrieb ihn in spanischer Sprache. Denn ich meinte, was ich da schrieb, müsse dem Kulturkreis vermittelt werden, in dem ich mich nun befand; nicht dem zentraleuropäischen, in dem sich jenes Geschehen zugetragen hatte. Denn den Leuten, die jetzt dort lebten, sei es ja ohnedies bekannt. Das meinte ich. Aber offenbar hatte ich beim heutigen deutschsprachigen Publikum die Kenntnis seiner eigenen, doch noch nicht so weit zurückliegenden Geschichte weitaus überschätzt.

Ich weiß nicht mehr, wie ich mit Pepe Murillo in direkten Kontakt kam, einem meiner Genossen, der ein sehr guter Schriftsteller war und der auch einen kleinen Verlag besaß. Er las mein Manuskript und erklärte, er würde das herausgeben, und zwar sofort.

Was hatte ich denn da beschrieben? Das Schicksal meines Urgroßvaters Adolf, dessen Eltern in dem slowakischen Städtchen Topolczanyi eine »Pfaidlerei« hatten: einen Weißwarenladen; die, als auch die Juden einen Familiennamen haben mußten, sich »Baiersdorf« nannten, weil offenbar der Mann aus Bayern dorthin gekommen war. Die Frau hieß Zipe, nannte sich aber bald »Josephine«, weil sie nicht mehr den Judenjargon als Sprache gebrauchte, sondern ein immer korrekteres Hochdeutsch. Ihren ältesten Sohn hatten die Baiersdorfs, unter großen Opfern, nach Wien geschickt, damit er dort Medizin studierte; und dort war die Revolution ausgebrochen und hatte den jungen Menschen erfaßt und mitgerissen. Er war offenbar Mitglied der Akademischen Legion, der Kerntruppe der revolutionären Kräfte, und war, als die Revolution am Ende des Jahres zusammenbrach, von der Fakultät relegiert worden. Das war so ungefähr alles, was ich an konkreten Tatsachen kannte. Ja, auch das noch, daß er bei einem Herrn Hirschel, einem getauften Juden, der drei Töchter hatte, als Hauslehrer arbeitete und sich so verdiente, was er für seinen bescheidenen Unterhalt und für sein Studium brauchte. Alles weitere Geschehen habe ich erfunden. Die Personen, die da noch auftauchen, sind zum großen Teil real; und erfunden, besser gesagt: »vermutet«, ist nur ihre Beziehung zueinander und zu dem realen Helden des Romans: meinem Urgroßvater Adolf Baiersdorf. Da ist der Bauernführer Hans Kudlich, der Kaiser Ferdinand, der Arzt und Revolutionsführer Adolf Fischhof, der Komödiendichter Johann Nestroy, der Rabbiner Isaak Mannheimer, der polnische Offizier Josef Bem und der leibhaftige Karl Marx, der ja wirklich im Herbst 1848 Wien besuchte.

Erfunden aber ist jedenfalls die Schauspielerin Therese Herzog. Oder sagen wir lieber: »fast ganz erfunden«. Denn eine Schauspielerin Herzog gab es am Karl-Theater ja wirklich. Aber ganz gewiß war da nicht jene große Liebe mit Adolf Baiersdorf, die im Roman geschildert ist. Sie hat ihm also auch nicht das Leben gerettet, als General Windischgrätz Wien einnahm und da ein Blutregime aufrichtete. Er, der Adolf, ist dann wohl auch nicht über die Donau in die Slowakei geflohen, zu seinen Eltern zurück. Aber von der Fakultät relegiert wurde er und ist also kein Arzt geworden.

Ich nannte den Roman: »La Esperanza Trunca« (die unerfüllte Hoffnung). Denn da ist die Vermutung ausgesprochen, daß die ganze spätere Entwicklung Europas eine ganz andere gewesen wäre, wenn jene Revolution nicht mit einer Niederlage geendet hätte, sondern mit einem Sieg.

Als Motto schrieb ich an den Anfang einen Satz, mit dem Fidel Castro sich auf die Revolutionäre bezog, die am Ende des XIX. Jahrhunderts Kuba von der spanischen Kolonialherrschaft befreien wollten: »Wir wären damals wie sie gewesen. Sie wären heute wie wir.«

Der Roman, mein Erstling, wurde zu einem großen Erfolg. Und dieser überzeugte mich davon, daß es bei der Schilderung des Revolutionsjahres nicht bleiben durfte, sondern daß weitererzählt werden mußte: das Schicksal einer jüdischen und sehr bald nicht mehr echt jüdischen Familie und das Schicksal Österreichs bis zur Machtergreifung des Naziregimes, die Vertreibung, der Holocaust, die Bildung des Anti-Hitler-Bündnisses und der Krieg, welcher Hitler und seinem Blutregime das Genick brach. Ich schrieb also weiter, in spanischer Sprache, und es wurden schließlich fünf Bände, die in verschiedenen argentinischen Verlagen alle erschienen und die alle Erfolg hatten.

Was ich nicht erwartete und was dann doch geschah, war, daß in Europa Interesse daran geäußert wurde. Nämlich in der DDR vom Verlag der Nation. Es war kein sozialistischer, sondern ein bürgerlicher, wenn auch dem sozialistischen Regime gegenüber loyaler Verlag: Darum wollte er auch etwas bringen, was das Schicksal einer bürgerlichen Familie beschrieb.

Ich hätte den Text selber übersetzen können, aber ich wollte nicht. Wenn ich etwas schrieb, meinte ich, dann lieber Eigenes. Und wenn ich etwas übersetzte, dann lieber Fremdes. Aber ich irrte mich da wohl. Frau Christiane Barck­hausen, die ich später persönlich kennenlernte, war eine sehr tüchtige Übersetzerin. Aber ihr Deutsch hatte einen berlinerischen Anhauch, und es hätte, wenn überhaupt einen, einen wienerischen haben müssen. Die ersten zwei Bände kamen doch so weit recht gut heraus. Aber ich beschloß, die übrigen drei lieber selbst ins Deutsche zu übertragen. Das tat ich auch, aber es wurde nichts mit der Herausgabe. Sie meinten, nunmehr handle es sich schon um eine sozialistische Problemstellung, nicht mehr um eine bürgerlich-liberale, und das sei also nichts für sie. Sie wollten sich darum kümmern, daß ein anderer Verlag die Bände drei bis fünf herausbrächte. Aber da gab es dann schon den Zusammenbruch der DDR, und so war es nichts damit. Erst jetzt wird die ganze Romanreihe in deutscher Sprache herausgegeben, und zwar von der Theodor-Kramer-Gesellschaft in meiner Geburtsstadt Wien. Ja, wenn man lange genug lebt, dann erlebt man unter Umständen eben auch das!

 

junge Welt

Veröffentlicht in Kultur und Gesellschaft

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