"Digitale Boheme" in Berlin

Veröffentlicht auf von Sepp Aigner

 

Wer sich eine gewisse zeitgenössische Kleinbürgerszene in Berlin in einen geschichtlichen Zusammenhang stellen möchte, kann mit Gewinn Heinrich Manns "Der Untertan" lesen. Aufmerksamkeit erregen mit scheinbarer Widerborstigkeit, wo sie den Herrschenden nicht weh tut, "alternativ"-mediale Pflege persönlicher Schrullen als Markenzeichen, "die Beziehungen spielen lassen", um vielleicht doch noch an einen einträglichen Posten zu kommen ... - im Schatten der Macht und des Reichtums tummeln sich die Möchtegerns.

 

Die FAZ sieht das mit einer Mischung aus Verachtung und Unmut, ja Besorgtheit. Nicht, dass diese Szene wichtig wäre. Aber ihre Existenz ist ein Symptom. Sie ist die Widerspiegelung der kulturell und sozial degenerierten grossen Geschäftemacher in Politik und Wirtschaft auf Armuts-Level. Die motzenden und zugleich speichelleckenden Möchtegerns wiederholen unten als Farce, was oben den Bourgeois-Charakter ausmacht. Unten geht es um die tausend Euro für irgendein "Projekt", oben um die Millionensummen. Unten die Schnorrer und oben die grossen Abstauber.

 

Hier der FAZ-Text, in dem durchscheint, dass mit der moralischen Verkommenheit des Bourgeois-Milieus auf die Dauer buchstäblich kein Staat zu machen ist :

 

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/digitale-boheme-in-berlin-diese-verflixten-tausend-euro-11823254.html

 

Beim Lesen des Artikels kam mir der Gedanke: Aber die Haltung des folgenlosen Motzens, des Duckens, des Gebrauchs des eigenen Ellenbogens gegen die Konkurrenz um Arbeit und Auskommen, gibt es doch auch bei den normalen Arbeitern und Angestellten. Schon. Aber was für ein Unterschied zu den kleinen und grossen Nichtstuern: Die "Normalos" schaffen den Reichtum, an dem die Schnorrer und Abstauber schmarotzen. Das ist eine andere Welt. Wenn ein Malocher oder eine kleine Angestellte scheel auf Kollegen schaut und den Arbeitslosen ihre paar Euro Existenzminimum nicht gönnt, ist das die fehlgeleitete,auf BLÖD hereinfallende, Unzufriedenheit von Menschen, die um das von ihnen Erarbeitete gebracht werden und dafür die Falschen verantwortlich machen. Das bedarf "nur" einer verhältnismässig einfachen Korrektur: Unbehagen und Wut müssen sich gegen die wirklichen Verursacher richten. Das Gleiche ist nicht das Selbe.

 

Die abnehmende Integrationskraft der bürgerlichen "Werte", die beständig durch den Sittenverfall "derer da oben" unterhöhlt wird, macht der FAZ Sorgen, die sehr berechtigt sind. Indem sie die Farce "digitale Boheme" aufs Korn nimmt, hält sie dem Original Grossbürgertum den Spiegel vor. Die FAZ macht damit den einsamen Rufer in der Wüste. "Die da oben" sind viel zu abgehoben, um zu checken, was sich unten zusammenbraut. Kurz bevor man Marie Antoinette den Kopf abgeschlagen hat, soll sie gefragt haben: "Aber wenn die Leute kein Brot haben, warum essen sie dann nicht Kuchen ?"  

 

 

Veröffentlicht in Kultur und Gesellschaft

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