Reichweite und Grenzen der Revolution in Tunesien
Werner Ruf skizziert in einem kenntnisreichen Artikel in junge welt die Ausgangsbedingungen des Aufstands und seine vörläufigen Ergebnisse. Der Teil des Textes, der die Ergebnisse umreisst, ist im Folgenden gespiegelt. Der ganze Text steht hier : http://www.kominform.at/article.php/20110414144101237
Erkämpfte Demokratie
In Tunesien hatte sich Wut aufgestaut, die an der Oberfläche nicht sichtbar war. Der soziale Protest, der nach der Selbstverbrennung eines jungen Mannes von der westtunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid seinen Ausgang nahm, endete in einer eher bürgerlich zu nennenden Revolution, an der schließlich die gesamte Gesellschaft teilnahm. Der Haß auf die plündernde Despotie führte schließlich sogar zur Weigerung der Armee, auf die Bevölkerung zu schießen. Ben Ali hatte die Armee fern von seinem Palast gehalten und sie politisch marginalisiert, da er eine Wiederholung eines Coups wie desjenigen, den er selbst mit ihrer Hilfe durchgeführt hatte, vermeiden wollte. Ob es nur die aufrechte Haltung der Militärführung war, die zum Sturz des Systems beitrug, bleibt ungewiß: Es gibt Hinweise, daß die US-Botschaft in Tunis, die aufgrund der Ausbildung der hohen Offiziere in US-Kriegsakademien beste Beziehungen zum Offizierskorps unterhält, den Diktator aus wohlerwogenen langfristigen Überlegungen – ähnlich wie später in Ägypten – loswerden wollte.
Entscheidend für das Gelingen der Revolution waren jedoch auch die Elemente der sogenannten Zivilgesellschaft im Lande selbst: An erster Stelle ist hier zu nennen die Einheitsgewerkschaft UGTT (Union Générale des Travailleurs Tunisiens), die 1923 gegründet wurde und immer den Unabhängigkeitskampf unterstützt hatte. Trotz aller Gängelungsversuche durch Bourguiba wie Ben Ali, der die Gewerkschaftsführung korrumpiert hatte, blieben deren regionale Strukturen und Kader militanten und an den Interessen der Arbeiter orientierten Positionen treu. Das zeigte sich nicht nur 2008 in Gafsa, sondern auch bei der Bildung des ersten Übergangskabinetts nach der Flucht Ben Alis. Die UGTT-Führung hatte drei Mitglieder in dieses Kabinett entsandt. Nach einem spontan einberufenen Gewerkschaftskongreß mußten diese Mitglieder binnen 24 Stunden die Regierung wieder verlassen. Von den Gewerkschaftshäusern in der Provinz waren auch viele Demonstrationen ausgegangen.
Auch die – unter Ben Ali illegalen wie legalen – politischen Parteien (letzteren wurden ihre Parlamentssitze schon vor den Wahlen zugeteilt) werden zukünftig eine wichtige Rolle spielen, zu nennen sind vor allem: Ettajdid, eine als legal anerkannte und aus der alten Kommunistischen Partei hervorgegangene Erneuerungspartei, die derzeit mit einem Minister in der Übergangsregierung sitzt; die bisher verbotene Kommunistische Arbeiterpartei Tunesien (PCOT), die in der UGTT eine nicht unbedeutende Basis haben dürfte; die ebenfalls bisher verbotene islamistische Ennahda (Wiedergeburt); schließlich andere bürgerliche und linke Parteien – ihre Zahl ist inzwischen auf über vierzig gewachsen –, die sich teils aus dem Establishment der alten Staatspartei rekrutieren, teils auch die gewachsenen Mittelschichten repräsentieren.
Die tunesische Gesellschaft wird sich die Errungenschaften ihrer bürgerlichen Revolution nicht mehr nehmen lassen. Die Chancen hierfür sind im Vergleich zu Ägypten schon deshalb besser, weil die Armee eine eher marginale Rolle spielt, in Ägypten jedoch seit dem Putsch Gamal Abdel Nassers und der Freien Offiziere im Jahre 1952 das Rückgrat des Systems darstellte und sich zu einer Militärbourgeoisie entwickelte, die etwa zehn bis 20 Prozent der Ökonomie kontrolliert. Um seine Unabhängigkeit und die erkämpfte Demokratie zu sichern, hat Tunesien – im Gegensatz zu Ägypten – nicht nur den Trumpf einer stärker entwickelten Zivilgesellschaft, sondern auch die im Vergleich mit Ägypten geringere weltpolitische Bedeutung: Die geostrategische Position Ägyptens, sein politisches Gewicht in der arabischen Welt und in der Afrikanischen Union, vor allem aber seine (sicherheitspolitische) Rolle im Verhältnis zu Israel machen das Land zu einem unverzichtbaren »Partner« für die USA. Dies mag erklären, warum die USA letztlich die Volksaufstände zu unterstützen scheinen: Nach der Katastrophe des militärischen »Regime Change« im Irak könnte gerade Tunesien Modellfall sein für einen »Regime Change Light«, der Formen eines demokratischen Systems in den arabischen Ländern mit der alten Dominanz des Westens verbindet: Eine liberale und rechtsstaatlich verfaßte politische Fassade könnte dazu dienen, den politischen und sozialen Druck zu kanalisieren, der von einer weiterhin neoliberal ausgerichteten Ökonomie ausgeht. Ob dies so gelingen wird, dürfte aber wesentlich von den politischen Kräften im Land selbst abhängen.
Kein zurück
Alles deutet darauf hin, daß die tunesische Bevölkerung einen Rückfall in die Diktatur ebenso wenig dulden wird wie die Weißwaschung der Vertreter des gestürzten Regimes. Hatte doch die alte Clique von Ben Ali versucht, ihre Hände weiter im Spiel zu halten: Mohamed Ghannouchi (nicht zu verwechseln mit dem Führer der Ennahda, Rachid Al-Ghannouchi), als letzter Ministerpräsident Ben Alis elf Jahre im Amt, leitete weiterhin die »Übergangsregierung«. Wichtige Ministerien, darunter das Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium blieben zunächst weiterhin in den Händen von Vertretern des alten Regimes.
Diese Kontinuität wollte aber das Volk nicht: Am 11. Februar wurde ein »Nationalrat zur Verteidigung der Revolution« gegründet, dem das gesamte Spektrum der politischen Kräfte des Landes einschließlich der Gewerkschaft UGTT angehört. Die Demonstrationen gingen weiter. Ghannouchi mußte zunächst die aus der Präsidenten-Partei RCD stammenden Minister entlassen und am 27. Februar selbst zurücktreten. Anstoß dazu dürfte die Einrichtung von Kommissionen zur Aufarbeitung der Verbrechen des Ben-Ali-Regimes gewesen sein, deren Mitglieder von Ghannouchi ernannt worden waren. Besonders skandalös war die Berufung von Abdelfattah Amor, Professor für öffentliches Recht, zum Vorsitzenden der Kommission zur Aufklärung von Unterschlagungen und Korruption. Amor war 1979 zum Professor berufen worden, mit Ben Ali begann sein steiler Aufstieg: zuerst Dekan, dann Ehrendekan der Juristischen Fakultät der Universität Tunis. Als solcher saß er fast sämtlichen Berufungskommissionen vor. Von Ben Ali erhielt er 1998 den »Menschenrechtspreis des Präsidenten der Republik«. Im gleichen Jahr wurde er Mitglied des Menschenrechtsausschusses der UN, deren Sonderberichterstatter er von 1993 bis 2004 war. Von 2003 bis 2005 war er Vorsitzender dieses Ausschusses, wo er die Menschenrechtsverletzungen in Tunesien herunterspielte, beschönigte und vertuschte.
Entscheidende Veränderungen
Mit Ghannouchis Rücktritt wurde eine zentrale Forderung der demokratischen Bewegung erfüllt: Von den 22 Kabinettsmitgliedern gehört nun kein einziges mehr der ehemals herrschenden Clique an. Im Kabinett sitzen nun nur noch parteilose Technokraten, die die Regierungsgeschäfte in der Übergangsperiode bis zu Neuwahlen führen. Die ehemalige Präsidentenpartei RCD wurde am 9. März nicht von der Regierung, sondern von einem ordentlichen Gericht aufgelöst.
Auch auf einem weiteren zentralen Gebiet wurden entscheidende Veränderungen erreicht: Der neue Innenminister hat die politische Polizei aufgelöst. Er erklärte, dies umfasse auch deren »Strukturen, Aufgaben und Praktiken.« Dies sind entscheidende Schritte zur Sicherung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Allerdings gibt es eine Vielzahl von Problemen: Das Übergangskabinett muß Ruhe und Sicherheit aufrechterhalten, ohne die wachsame Demokratiebewegung herauszufordern; die durch die Unruhen schwer beschädigte außenorientierte Wirtschaft muß schnellstmöglich wieder in Gang kommen (Tourismus, Zulieferproduktion vor allem für europäische Firmen); die weit über hunderttausend Flüchtlinge aus Libyen stellen eine riesige Belastung dar. Im Vordergrund steht derzeit jedoch die Debatte über die Schaffung neuer Institutionen: Am 24 Juli 2011 soll eine verfassunggebende Versammlung gewählt werden. An der Ausarbeitung eines entsprechenden Wahlgesetzes sind Parteien, Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Gewerkschaft, Anwaltsvereinigung und Menschenrechtsgruppen beteiligt. Erst danach sollen Parlamentswahlen abgehalten werden. Damit ist auch die Entscheidung offen, ob das neue Tunesien zukünftig eine Präsidialdemokratie oder vielleicht eine parlamentarische Demokratie sein wird. Nicht nur die Revolution vom Dezember und Januar, auch diese Entscheidung könnte Signalwirkung für die übrige arabische Welt haben.