Zunehmende Rivalität zwischen den EU-Hauptmächten
Als der Lissaboner Vertrag ausgehandelt wurde, meinten sehr viele in der Bloggerszene und den kleinen alternativen Internetmedien, damit sei die Entwicklung der EU zu einem Staat so gut wie besiegelt. Es gab viele Warnungen vor einer "Diktatur Brüssels". Dabei wurde übersehen, dass dieser Lissaboner Vertrag schon die Frucht eines Scheiterns war - des Scheiterns einer EU-Verfassung. Dass eine solche scheiterte, bedeutete, dass die Ambition einer zum Staat werdenden EU nicht vorankam. Die EU blieb das Staatenbündnis, das sie immer gewesen war. Als solches ist sie denn auch kein eigenständiges politisches Subjekt. Sie ist und bleibt ein Ausschuss, in dem die gemeinsamen Interessen verhandelt und von dem entsprechende Massnahmen exekutiert werden - nicht zuletzt solche, die bei den "kleinen Leuten" besonders schlecht ankommen. Die nationalen Regierungen verstecken sich gern hinter "der EU". Besser, die Leute regen sich über die "Brüsseler Bürokraten" auf als über die deutsche, französische oder italienische Regierung, auch wenn die EU-Mitgliedsstaaten in Wirklichkeit vorgeben, was "die EU" zu exekutieren hat.
Die EU wird nicht nur kein "Überstaat", sondern ist in ihrer Existenz gefährdet. Die Rivalitäten zwichen den mächtigsten Mitgliedsstaaten nehmen zu. Via "Anti-Krisen-Massnahmen" werden Machtkämpfe ausgetragen, bei denen es darum geht, die Gewichte der einzelnen Staaten neu zu tarieren. Deutschland beansprucht unverblümter denn je die Rolle der Führungsmacht, und dieser Anspruch ist angesichts seines ökonomischen Gewichts gefährlich gut fundiert. Ein gutes Viertel des EU-BIP ist deutsch. Die jahrzehntelange ungefähre Ebenbürtigkeit Frankreichs ist gefährdet.
Die Konstellation beim Angriff auf Libyen ist kein Zufall: Frankreich und Grossbritannien verbanden sich mit Italien, Spanien und einigen kleineren Kötern unter der "schützenden Hand" der USA zu einem Angriffsbündnis - und Deutschland hielt sich offiziell heraus.
Es zeichnet sich ab, dass das "deutsch-französische Führungstandem" einer komplizierteren Konstellation weicht. Dazu gehört die "Annäherung" zwischen Frankreich und Grossbritannien und darüber - über die Funktion Grossbritanniens als europäischer Haupt-Juniorpartner der USA - auch zwischen Frankreich und den USA. Das gehört zu dem Gegengewicht zu den deutschen Hegemonie-Ambitionen.
Es wird immer wieder behauptet, Sarkozy sei ein CIA-Agent. Das würde gut zu dieser schillernden Figur passen. Aber Frankreich ist kein US-Dominium und die französische Monopolbourgeosie würde keinen CIA-Agenten zum Präsidenten machen, wenn ihr das nicht passen würde. Die Annäherung an die USA ist keine Verschwörung gegen die imperialistischen Interessen Frankreichs, sondern liegt im Interesse der französischen Monopolbourgeoisie. Man lehnt sich auch nicht stärker an die selbe USA an, an die das Frankreich De Gaulles sich nicht anlehnen wollte. Die USA sind im "westlichen Lager" nicht mehr so konkurrenzlos übermächtig wie in den ersten Jahrzehnten nachdem II. Weltkrieg. Sie können Staaten der "3. Welt" zerstören, aber ein Land wie Frankreich einfach den eigenen Interessen unterordnen geht schon nicht mehr. Dass "Partnerschaften" mit der Noch-Welthegemonialmacht in Beherrschung durch sie umschlagen, ist heute weniger gefährlich als 1970.
Es scheint, dass die neue "Achse" Paris-London ist nicht auf Libyen oder einzelne gemeinsame Unternehmungen ausgelegt, sondern ein auf Dauer angelegtes Widerlager zu Deutschland ist. Dafür sprechen die gemeinsamen "Projekte", die German Foreign Policy im folgenden Text in Augenschein nimmt:
26.10.2011
BERLIN/PARIS
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58184
(Eigener Bericht) - Heftige Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Paris über die Außen- und Militärpolitik der EU begleiten den eskalierenden deutsch-französischen Streit über die Lösung der Euro-Krise. Wie eine aktuelle Analyse bestätigt, blockieren Machtkämpfe zwischen Deutschland und Frankreich das hegemoniale Ausgreifen der EU in alle Welt, insbesondere etwa die praktische militärische Kooperation oder auch gemeinsame Rüstungsprojekte. Über die deutsch-französische Brigade, die als ein herausragendes Element einer künftigen europäischen Streitmacht galt, heißt es mittlerweile: "Das Experiment stößt an seine Grenzen." Analytiker weisen darauf hin, dass eine pragmatische Militärkooperation zwischen Frankreich und Großbritannien zu messbarem Erfolg führt - zuletzt mit dem Herbeibomben eines neuen Regimes in Libyen -, während zugleich deutsch-französische "Blockaden" eine einheitliche EU-Politik verhinderten. Experten sehen die EU-Militärpolitik bereits "im Koma" und sagen eine kommende Unterordnung Europas unter die USA voraus.
Deutsch-französische Agenda
Wie es rückblickend in einer Analyse heißt, die die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) unlängst veröffentlicht hat, hofften viele nach dem Regierungswechsel in Deutschland im September 2009 auf eine "Wiederbelebung der deutsch-französischen Zusammenarbeit" - auch auf dem Gebiet der Außen- und Militärpolitik. Gerade das hegemoniale Ausgreifen der EU nach außen sei nicht mehr recht vorangekommen - offenkundig wegen Unstimmigkeiten zwischen den beiden stärksten Mächten. Die konservativ-liberale Koalition habe Abhilfe schaffen sollen. Tatsächlich einigten sich Berlin und Paris auf eine "Deutsch-Französische Agenda 2020", die im Februar 2010 dem deutsch-französischen Ministerrat vorgelegt wurde. Darin enthalten waren unter anderem eine ganze Reihe von Vorschlägen insbesondere auch für die Außen- und Militärpolitik. "Ein Jahr nach Erscheinen der Agenda", resümiert die DGAP höflich verklausuliert, "haben die Regierungen noch immer große Schwierigkeiten, in den genannten Bereichen ihr Handeln besser abzustimmen". Eine Umsetzung der angekündigten gemeinsamen Maßnahmen bleibe aus. Entsprechend stagniere auch die weltweite Machtpolitik der EU. Deutsch-französische Absprachen vom Dezember 2010, die auch Polen involvierten, hätten bislang ebenfalls keine Fortschritte gebracht.[1]
Abschreckende Beispiele
Die DGAP-Analyse konzentriert sich zunächst auf deutsch-französische "Blockaden" in der Militärpolitik. Diese "Blockaden" träfen etwa die Deutsch-Französische Brigade, die im Jahr 1989 "als Symbol für die deutsch-französische Zusammenarbeit geschaffen worden" sei. Zwar sei die Brigade immer wieder für Interventionen genutzt worden, insbesondere in Südosteuropa - einem deutschen Interessengebiet -, doch weiter reiche die Zusammenarbeit nicht: "Das Experiment stößt an seine Grenzen."[2] Nicht anders sehe es zur Zeit in der Rüstung aus. Zwar könne man durchaus auf eine Tradition erfolgreicher deutsch-französischer Rüstungszusammenarbeit zurückblicken; so sei beinahe die Hälfte aller bilateralen französischen Kooperationen aus den Jahren 1958 bis 1998 mit deutschen Firmen abgewickelt worden, bloß ein Viertel hingegen mit britischen Unternehmen. Mittlerweile aber würden deutsch-französische Projekte "als abschreckende Beispiele angesehen"; es gebe regelmäßig "Preisaufschläge", "Verzögerungen", eine "Politisierung industrieller Fragen". Tatsächlich ist die Zusammenarbeit zwischen Berlin und Paris etwa bei EADS, aber auch bei den Überlegungen über eine mögliche europäische Marinekooperation ("EADS der Meere") schon seit Jahren von heftigen Rivalitäten geprägt - Resultat eines Machtkampfes, in dem die deutsche Seite Vorteile hat, den französischen Konkurrenten bislang aber nicht endgültig besiegen kann (german-foreign-policy.com berichtete [3]).
Pragmatisch
Die deutsch-französischen "Blockaden" wiegen der DGAP-Analyse zufolge umso schwerer, als es Frankreich und Großbritannien im vergangenen Jahr gelungen ist, eine erfolgreiche Kooperation im militärischen Bereich zu initiieren - mit einem Abkommen vom Dezember 2010. Die Bedeutung der französisch-britischen Zusammenarbeit ergibt sich der DGAP zufolge schon daraus, dass die beiden Länder gemeinsam "mehr als 50 Prozent der gesamten Verteidigungsausgaben sowie zwei Drittel der Ausgaben für militärische Forschung und Entwicklung in Europa aufbringen".[4] In die Pläne für ihre Kooperation beziehen Paris und London auch ehrgeizige Rüstungsprojekte ein, darunter Vorhaben zur Herstellung von Raketen und Drohnen. Die Zusammenarbeit sei, heißt es, durchaus "pragmatisch" orientiert - und profitiere insbesondere davon, dass Großbritannien und Frankreich die einzigen europäischen Atommächte seien; Nuklearvorhaben seien ein Teil der gemeinsamen Vorhaben. Insgesamt gestalte sich die französisch-britische Kooperation weitaus dynamischer als die stagnierenden deutsch-französischen Programme. Als Beispiel kann der Libyen-Krieg gelten: Während die beiden letzten großen Afrika-Militäreinsätze der EU - derjenige im Kongo 2006 und die Intervention im Tschad 2008/2009 - durch deutsch-französischen Streit geprägt waren und aus diesem Grund ohne größere Wirkung blieben, bombten Paris und London in den letzten Monaten ein neues Regime in Tripolis an die Macht.
Erfolgreich sabotiert
Tatsächlich ist die neue französisch-britische Kooperation, bei der die Bundesrepublik sich - wie im Falle des Libyen-Krieges - tendenziell an den Rand gedrängt sieht, eine Reaktion auf die jahrelange deutsche Dominanz in der EU-Außen- und Militärpolitik. Vor allem französische Vorhaben wurden von Berlin systematisch sabotiert. Pariser Pläne, nach den umfassenden Interventionen der 1990er und 2000er Jahre in Südosteuropa - also im vorwiegend deutschen Interessen- und Einflussgebiet - das Ausgreifen der EU stärker in den eigenen "Hinterhof" zu lenken - also nach Afrika -, scheiterten an der Bundesrepublik: Zwar kamen 2003 und 2006 zwei Militäreinsätze im Kongo zustande, auch um die Interventionsfähigkeit der europäischen Streitkräfte zu testen, doch blieben sie isoliert - und ein dritter französisch inspirierter Afrika-Einsatz im Tschad 2008/2009 misslang komplett.[5] Auch die Mittelmeerunion, mit der Paris seine Einflusszone in Nordafrika stabilisieren wollte, wurde von Deutschland mit langjähriger systematischer Obstruktionspolitik zum Scheitern gebracht.[6] In der Zukunft käme aus Berliner Sicht allenfalls eine Intervention in denjenigen Teilen Afrikas in Frage, die nicht zur Frankophonie, sondern zum deutsch-US-amerikanischen Interessengebiet gehören - vor allem etwa im Sudan. Mit dem Libyen-Krieg ist es Paris erstmals gelungen, die Dominanz der Bundesrepublik zu durchbrechen; freilich reichte der Einfluss Frankreichs nicht, um die ganze EU auf seine Seite zu ziehen.[7]
US-Garantien
Während vergleichbare deutsch-französische Machtkämpfe die aktuellen Versuche zur Lösung der Euro-Krise prägen (german-foreign-policy.com berichtete [8]), äußern Experten in zunehmendem Maße Skepsis, ob die EU in absehbarer Zeit ein einheitliches hegemoniales Ausgreifen in alle Welt praktizieren können wird. So heißt es bei der DGAP, zwar werde eine gemeinsame EU-Armee "in politischen Kreisen in Deutschland" immer lauter gefordert. Doch zeige sich, dass nicht einmal die längst vorhandenen EU-Battlegroups genutzt würden - "aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten über Ziele und Bedingungen ihres Einsatzes".[9] Erst vor kurzem hat ein einstiger Mitarbeiter der DGAP gefordert, die Bemühungen um eine gemeinsame Militärpolitik der EU einzustellen. Die "Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik" liege "trotz einer Handvoll von Missionen und einer Menge Symbolik in einem tiefen Koma - einem Koma, aus dem sie höchstwahrscheinlich nie aufwachen wird", schrieb der Experte vor dem Hintergrund der durch die deutsch-französische Rivalität verursachten "Blockaden". Doch sei das "nicht so desaströs, wie es klingen könne, weil es eine Alternative für die Europäer" gebe: "die transatlantische Beziehung". "Am Ende werden die Amerikaner die Sicherheit Europas garantieren, egal wie schwierig es für die stolzen Europäer sein wird, das zu akzeptieren."[10] Um genau dies zu verhindern und eine eigene Weltmachtrolle zu erreichen, hat die Bundesrepublik die gemeinsame Außen- und Militärpolitik der EU bislang ehrgeizig vorangetrieben.
[1], [2] Louis-Marie Clouet, Andreas Marchetti: Ungewisse Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Notwendige deutsch-französische Reflexionen, DGAPanalyse Frankreich No. 6, September 2011
[3] s. dazu
Mehr Einfluss denn je, Kernfähigkeit Rüstung und Größeres Selbstbewusstsein
[4] Louis-Marie Clouet, Andreas Marchetti: Ungewisse Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Notwendige deutsch-französische Reflexionen, DGAPanalyse Frankreich No. 6, September 2011
[5] s. dazu
Transatlantische Front und Am längeren Hebel
[6] s. dazu
[7] s. dazu
[8] s. dazu
[9] Louis-Marie Clouet, Andreas Marchetti: Ungewisse Zukunft der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Notwendige deutsch-französische Reflexionen, DGAPanalyse Frankreich No. 6, September 2011
[10] Jan Techau: Forget CSDP, it's time for Plan B; ecfr.eu 26.08.2011
via http://www.triller-online.de/index2.htm