Briefe aus Frankreich, Nr. 8: Kommentar zu einem Modrow-Interview in junge welt
Alexandra hat ihren achten Brief aus Frankreich geschickt. Sie kommentiert darin ein Interview, das Hans Modrow der jungen welt gab. (Hier im Anschluss an den Brief gespiegelt.)
Zurück zu Marx – aber um Himmels Willen nicht kommunistisch!
Einige Bemerkungen zum Gespräch mit Hans Modrow („Zurück zu Marx", Gesprächsführung Frank Schumann, jW vom 06.01.2012 unter „Schwerpunkt")
Schon lange, bevor sich kommunistische Ideen weltweit mit den rückständigen Verhältnissen auseinandersetzten, hatten alle Sorten von Herrschern begriffen: Gefolgsleute und brave Untertanen schafft man sich mit Geld und Versprechungen, so das nicht hilft, mit Gewalt. Dabei blieb bei „internen" Streitereien immer die Ausschaltung der Volksmassen von der Macht oberstes Ziel. Der unbedingte Glaube an die (gottgegebene) soziale Einrichtung der Welt bildete und bildet die Basis für einen „Gesellschaftsvertrag", der den breiten Volksmassen aufgezwungen wurde und wird. Hierin wurzelt die scheinbare Lethargie weiter Teile der Bevölkerung.
Der Marxismus-Leninismus besagt nicht nur, dass eine andere Welt möglich ist, sondern auch, warum und auf welchem Wege revolutionäre Veränderungen stattfinden müssen und dass es gesetzmäßig zur Herausbildung sozialistischer, später kommunistischer Gesellschaftsordnungen kommen werde. Die sozialistischen Länder erbrachten und erbringen den Beweis für die mögliche Veränderung. Daran ändern keine Rückschläge und Konterrevolutionen etwas.
Es geht um Aufklärung, Bildung und letztlich Anwendung des marxistisch-leninistischen Wissens, denn die größte Gefahr für Kapitalismus und Imperialismus ist das Festsetzen seiner Erkenntnisse in vielen Köpfen. Deswegen unternehmen sie seit über 150 Jahren alles, um das kommunistische Gedankengut zu verfälschen und die Verdienste sozialistischer Länder, ihrer Staatsmacht und ihrer führenden Parteien zu negieren und zu diffamieren.
Mancher Bildungs-Kleinbürger wechselt mit dem Gespür seiner Schicht bei Machtverschiebungen sofort, aber als Rückversicherer nicht immer offen das Lager. In der bürgerlichen Gesellschaft erklärt seine Indifferenz die Zerrissenheit der progressiven Kräfte im Klassenkampf. Vergessen wir alles, was in irgendeiner Weise einer sogenannten Arbeiteraristokratie vorgeworfen wird. Der Begriff heute im Zusammenhang mit dem Einschwenken kommunistischer Parteien auf opportunistische Positionen klingt nach Erfindung intellektueller Kreise zur Diffamierung der Arbeiterbewegung. Denn mit ihrer Indifferenz und dem Übernehmen von Positionen des Kapitals sind es immer wieder aus dem Bildungs-Kleinbürgertum stammende Führungsspitzen, die zum eigenen Nutzen ihre Anhänger verrieten.
Die Entwicklung der Produktivkräfte in der bürgerlichen Gesellschaft fordert von Wirtschaft, Verwaltung und dem gesamten Geflecht politischer, wirtschaftlicher und militärischer Institutionen eine stetig wachsende Anzahl an gut ausgebildeten Kräften. Vielen Kleinbürger- und auch Arbeiterkindern wurde so ein Hochschulstudium ermöglicht, um die Hebung des ökonomischen Niveaus und die Wahrung politischer Stabilität abzusichern. Die „Wohlstandspolitik" auch der Bundesrepublik führte zum Anwachsen des Bildungs-Kleinbürgertums, das sich politisch überwiegend im Schatten eingefahrener Ideologien und Parteien bewegte oder sich „links" austobte. Aufstieg und Niedergang der „Grünen" bzw. ihr Aufsaugen durch konservative Parteien bezeugen die staatsnahe Verbundenheit von Bildungsbürgern. Sie sind wie die Arbeiter einer Konkurrenz um Arbeitsplätze unterworfen.
Die Konterrevolution zum Ende der achtziger Jahre spülte wiederum ein Heer an Intellektuellen teils buchstäblich auf die Straße, teils in den Unterdrückungs- und Propagandaapparat des nunmehr gesamt-bundesdeutschen Staates, der nicht nur als prügelnde Polizei in Aktion tritt, sondern durchaus auch mit mehr oder weniger Kultur verbandelt ist. Auch, aber eben nicht nur, zur Pflege des humanistischen Erbes sieht man z. B. über „kommunistische Ausrutscher" einer Anna Seghers oder Rosa Luxemburg hinweg. Ziel ist in solchen Fällen u. a. die posthume Loslösung herausragender Kommunisten von ihrer Bewegung, um Zweifel zu säen. Die SPD hat vor Jahren bereits ein Beispiel gesetzt mit dem Karl-Marx-Haus in Trier. Auch solche (hier nur beispielhafte) Fälle sind eine Anwendung des Satzes: OHNE revolutionäre Theorie KEINE revolutionäre Praxis.
Mit der Vereinnahmung der SED durch ein Führungsgremium antikommunistischer DDR-Intellektueller und die Umwandlung in eine Partei des „demokratischen Sozialismus" war neben der Ruhigstellung ehemaliger SED-Mitglieder auch das Postenproblem für einige Bildungsbürger der BRD gelöst. Die Möglichkeit der Erlangung politischer Macht, gleichsam als Verdienst vollbrachter Leistungen, rückte mit der Konsolidierung einer mitgliederstarken Organisation in den Vordergrund. Die PDS- und spätere „Die Linke"- Führungsebene wie auch die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung konnten auf Kader zurückgreifen, die in den Jahren Gorbatschowscher Sinnentleerung Übung in scheinbarer marxistisch-leninistischer Denk- und Schreibweise besaßen. Mühelos verpassten sie sich eine „politische Wende" und griffen mit dem Marxismus-Leninismus unvereinbare Theorien und Annäherungen auf. Allein die Abkehr vom Marxismus-Leninismus beweist, dass der Wille für eine grundlegende Gesellschaftsänderung nicht vorhanden ist.
Das ermöglicht(e) zweierlei: Den Zustrom von Mitgliedern aller Couleur und die Beibehaltung eines aktiven linken Stammes, größtenteils in der DDR erzogen und gebildet. Vor allem letztere und deren Nachfahren bilden sozial engagierte Basisgruppen, denen später weitere im gesamten Bundesgebiet folgten. Sie sind der eigentliche Motor der linken Bewegung, haben aber auf Grund des abgeschafften Prinzips des demokratischen Zentralismus keinen Einfluss auf die Führungsebene. Wie seit Jahrtausenden üblich – man sehe sich nur die wenig weiter entfernte bürgerliche Revolution in Frankreich an – soll die Masse des Volkes für eine Handvoll längst im Dienst der herrschenden Klasse stehender politischer Kaskadeure die Kulisse bilden.
„Die Linke" wird so zu einer weitestgehend berechenbaren Bewegung bundesdeutscher Parteienlandschaft. Darüber brauchen auch wiederkehrende Ausfälle starrer Konservativer nicht hinwegtäuschen. So manche Kreise der bundesdeutschen Parteienlandschaft sind offenbar ihrer eigenen Propaganda aufgesessen und verbinden das Jahr 1989 mit einer friedlichen Revolution, durchgeführt von Bürgern mit dem Drang nach „Freiheit und Menschenrechten". Für sie ist schwer begreiflich, dass die Infiltrierung einer Partei und Zersetzung mittels scheinbarer marxistischer Ideologie, maßgeblich geführt und gefördert von ihren Spitzenkräften, eine wirksame Bekämpfung des Kommunismus bewirken könnte.
Sehen wir uns die „Wieder-Annäherung an den Marxismus" etwas näher an. Herr Dr. Modrow ist ein sehr vorsichtiger Mann. Mit „Zurück zu Marx" versucht er zur Stärkung der Partei „Die Linke" einen Appell zur Einheit von Trotzkisten, Rest- Kommunisten sowie Bewunderern als auch Gegnern der VR China. Bei seinen Auslassungen zur Konferenz der britischen KP am 26./27. 11. 2011stellt er mit gehaltlosen oder tendenziellen Bemerkungen den Sozialismus Chinas in Frage, z. B.: In China wären nur noch 30% der Betriebe in Staatsbesitz. Das ist wie: 30% aller Autos sind schwarz. Dem hochgeachteten Politökonomen Cheng Enfu (u. a. Leiter des Instituts für Marxismus und Ökonomie an der Shanghai-Universität) ist eine solche Aussage ebenso wenig zuzusprechen wie die dem historischen Materialismus widersprechende von „traditioneller Korruption" in China. Korruption ist immer an einen bestimmten Status der betreffenden Person und ihren Wünschen in der Gesellschaft gebunden. Deshalb gibt es keine „traditionelle Korruption". Sie, Verrat und Heuchelei sind Mittel der Machtausübung, aber auch der Andienung an die Macht. Das Kleinbürgertum ist aufgrund seiner besonderen Stellung anfällig dafür.
Herr Modrow wusste sich bereits zum 20. Jahrestag des Sturzes der Berliner Mauer in Szene zu setzen und würdigte gemeinsam mit der Kommunistischen Partei Frankreichs (Homolog der „Linken") am 09.11.2009 in Paris den Sturz der sozialistischen Staatengemeinschaft als Hoffnung für die europäische Demokratie: „Im Sommer 1989 hat sich der innere Druck in der DDR verstärkt. Die Forderungen nach Reisen und dem Verlassen des Landes stellten den sichtbaren Teil des Eisberges dar. Die Führung der SED wurde gleichzeitig von außen unter Druck gesetzt. Im Inneren des Landes nahmen die Forderungen nach Presse- und Meinungsfreiheit zu und führten zu Demonstrationen…" Und weiter: „Ich erinnere an dieser Stelle, dass die DDR nach der Öffnung der Grenze ein souveräner Staat war. Davon zeugt in erster Linie der Besuch des französischen Präsidenten François Mitterand, der sich als offizieller Gast vom 20. bis 23. Dezember [1989]in der DDR aufhielt… " Er lässt sich nicht hindern, als letzter Ministerpräsident der DDR im Ausland gefeiert zu werden.
Als solcher wurde er auch in London angekündigt. Er nimmt im Ausland die Hochachtung eines Repräsentanten der DDR entgegen. Nur wenigen außerhalb des deutschsprachigen Raums ist bekannt, unter welchen Umständen die „Übergabe der DDR" durch deren letzte „Repräsentanten" erfolgte. Mit den Sozialdemokraten besteht eben bestes Einvernehmen in ideologischen Fragen.
Der Sprecher des Ältestenrats von „Die Linke" war bereits am 10./ 11. November 2011 einer Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Leo-Trotzki-Hauses in Mexiko-City gefolgt. Haus und Museum werden heute von einer Institution geleitet, die politische Dissidenten des „Moskauer Regimes" unterstützt. Auch die weltweit aktive Bewegung der Internationalen Freunde des Trotzki-Museums ist gelegentlich zu Gast. Diese Kulisse sagte dem Politreisenden offenbar zu.
Das wundert nicht, gehört doch zum „intellektuell-kulturellen Umfeld" auch linker Bildungsbürger der Partei „Die Linke" und der „Rosa-Luxemburg-Stiftung" wie beim Bildungsbürger Trotzki die Verbandelung mit der reaktionärsten Presse, deren Duktus „stalinistische Säuberungen" bezüglich der Beurteilung der Moskauer Prozesse ab 1937 von eben dem übernommen und weitere hinzugefügt wurden: Stalinsche Diktatur und Bürokratie als Feind des sowjetischen Volkes; „Stalin und die Komintern sind jetzt zweifellos die wertvollste Agentur des Imperialismus"; die Diffamierung der Kommunistischen Internationale und Georgi Dimitroffs; Sowjetunion als „totalitäres Regime" (keine Erfindung der Nachkriegsjahre); Gleichsetzung von „stalinistisch" und „faschistisch" ; Forderungen nach Freiheit der Gewerkschaften, Presse- und Versammlungsfreiheit…
Ein eigenartiges „Zurück zu Marx" , bei dem statt der marxistisch-leninistischen Wissenschaft und der Negierung von Erfahrungen sozialistischer Länder bei der Erweiterung der Theorie und deren Anwendung in der Praxis die antikommunistische Flagge gezeigt wird.
Zum Schluss zwei Anmerkungen: Die Volksrepublik China ehrt Stalin durch die Aufstellung seines Abbildes auf dem Tien-An-Men-Platz. Deng Xiaoping hatte nach der Niederschlagung der ultralinken Clique im Jahre 1978 erklärt, dass dessen Platz unter den dortigen Helden sei.
Der revolutionäre Weltgewerkschaftsbund hat übrigens seinen Sitz in Athen und die größte gesamtchinesische Gewerkschaft ACFTU ist zahlenmäßig stärkstes Mitglied.
Alexandra, 14. Januar 2012
»Zurück zu Marx«
Das Modrow-Interview:
Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis: Klassiker bleiben für die politische Arbeit der Linken wichtig. Ein Gespräch mit Hans Modrow
Interview: Frank Schumann
Hans Modrow (geb. 1928) übte in der DDR verschiedene führende Funktionen in FDJ und SED aus. Vom 13. November 1989 bis zum 12. April 1990 war er Ministerpräsident, später bis 1994 Abgeordneter des Bundestages und von 1999 bis 2004 Mitglied des Europaparlaments. Von 1990 bis 2007 war er Ehrenvorsitzender der PDS und ist seitdem Sprecher des Ältestenrats der Partei Die Linke.
Unter dem Motto »Wir verändern die Welt« findet am 14. Januar in Berlin die von jW veranstaltete XVII. Internationale Rosa-Luxemburg-Konferenz statt. »Sozialismus oder Barbarei – welche Rolle spielt Die Linke?« lautet die Fragestellung der Podiumsdiskussion. Sie haben im vergangenen Jahr in Mexico-City und London auf internationalen Konferenzen über Geschichte und Perspektive der Linken diskutiert. Beginnen wir mit dem Fazit, bevor wir ins Detail gehen: Was blieb als wichtigste Erkenntnis der beiden Tagungen diesseits und jenseits des Atlantik?
Daß tradierte Werte und Prinzipien der antikapitalischen Bewegungen wieder wichtig werden und die Bedeutung politischer Bildung und Qualifizierung zunehmend erkannt und auch bedient wird. Das eine korrespondiert mit dem anderen und wird als Basis für eine erfolgreiche politische Auseinandersetzung gesehen.
In Mexico-City luden mehrere Institutionen – darunter auch das dortige Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung – zu einer dreitägigen Konferenz, die sich mit dem gemeinsamen antifaschistischen Erbe beschäftigte. Tagung und Workshops fanden im Trotzki-Museum, d.h. im einstigen Wohnhaus des russischen Revolutionärs, statt. Worum ging es?
Nun, bekanntlich gab es während des Zweiten Weltkrieges zwei Zentren, in denen sich deutsche Antifaschisten, mehrheitlich aus der KPD kommend, konzentrierten. Nachdem Prag und Paris verloren gingen, waren das Moskau und Mexico-City. Jenseits des Atlantik entstand – noch vor Gründung des Nationalkomitees »Freies Deutschland« 1943 in der Sowjetunion – ein Bund »Freies Deutschland«. Den Kern bildete der Heinrich-Heine-Klub, der von Anna Seghers geleitet wurde. An der Spitze des Bundes stand der Spanienkämpfer Ludwig Renn. Alles in allem lebten 1942/43 rund hundert deutsche Kommunisten in Mexiko, die Mehrheit jüdischer Herkunft, zumeist Intellektuelle – von Steffie Spira über Paul Merker und Alexander Abusch bis hin zu Walter Janka. Von dort gingen auch Impulse aus für den antifaschistischen Kampf in anderen lateinamerikanischen Ländern, in denen seit den frühen 30er Jahren die Fünfte Kolonne der deutschen Nazipartei, die Auslandsorganisation der NSDAP, wühlte. Nach dem Krieg fanden die aus Europa geflüchteten Nazis dort Unterschlupf.
Und daran wurde erinnert?
Ja, aber das greift zu kurz. Natürlich ging es zunächst darum, an diese Vergangenheit zu erinnern und Lücken zu schließen. Nüchtern wurde zum Beispiel festgestellt, daß die Geschichte der AO der NSDAP in Lateinamerika weit besser erforscht ist als die des Antifaschismus und der Emigranten. Es hat mich sehr bewegt, als ich sah, wie mit bescheidenen Mitteln, aber mit großem persönlichen Engagement dieses Kapitel dargestellt wurde. Renata von Hanffstengel, Tochter eines deutschen Exilanten und einer Mexikanerin, würdigte mit einer sehr anschaulichen Ausstellung Don Gilbert Bosques (1892–1995). Bosques war seinerzeit mexikanischer Generalkonsul in Frankreich, der Order von seiner Regierung hatte, politische Flüchtlinge aus der besiegten spanischen Republik, Juden, Antifaschisten und anderen Verfolgten Visa zu erteilen. Seine Unterschrift rettete Zehntausenden das Leben. Später war Bosques Botschafter in Havanna. Diese sehr informative Ausstellung war leider nur vier Tage zu sehen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung wird sich bemühen, sie nach Deutschland zu holen. Entscheidend jedoch bei dieser Zusammenkunft war der politische Meinungsaustausch, die Verständigung über dieses Kapitel gemeinsamer antifaschistischer Vergangenheit.
Wer nahm denn an der Konferenz teil?
Rund hundert Personen, darunter vier Deutsche. Dr. Margrid Bircken von der Universität Potsdam, eine Seghers-Forscherin, sprach zum Thema Exil und Literatur, ich über Exil und Politik. Mehrheitlich waren Studenten und Akademiker gekommen, die lebhaft diskutierten.
Nahm in dieser Neun-Millionen-Metropole die Öffentlichkeit überhaupt Notiz von dieser transatlantischen Runde?
Durchaus. Die Presse berichtete, wir gaben Interviews, und ich konnte mit den internationalen Sekretären zweier linker Parteien konferieren. Die Partido de la Revolución Democrática (PRD) und die Partido del Trabajo (PT) nahmen nicht offiziell an der Konferenz teil, aber sie suchten das Gespräch mit einem Vertreter der Partei Die Linke.
Was sind das für Parteien?
Die PT, die Partei der Arbeit, ist 1990 entstanden und nach meinem Eindruck marxistisch orientiert, die PRD, die Partei der Demokratischen Revolution, würde ich als vorrangig sozialdemokratisch bezeichnen. Sie stellt die zweitstärkste Fraktion im Parlament und pflegt auch Kontakte zur SPD. PT und PRD haben einen gemeinsamen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr, der nicht chancenlos ist. Beides sind große Mitgliederparteien, die in Lateinamerika beachtliches Gewicht haben. Wir sollten die Kontakte intensivieren.
Am 24./25. November luden die Marx-Gedenkbibliothek (Marx Memorial Library), die sich in einem hübschen Zweigeschosser in der Londoner Innenstadt befindet, und die Rosa-Luxemburg-Stiftung zu einer Konferenz zum Thema »Der Marxismus im 21. Jahrhundert«. Weshalb lud man Sie?
Ich habe langjährige Kontakte zur KP Großbritanniens, sprach beispielsweise vor sechs Jahren am Grabe von Marx, besuchte wiederholt ihre Gedenkbibliothek. Letztlich haben die DDR und die Sowjetunion seinerzeit die Einrichtung unterstützt, weshalb dem Trägerverein die Immobilie heute gehört. Dort befindet sich auch das Archiv des und die Bibliothek zum spanischen Bürgerkrieg. Da existiert doch eine traditionelle Verbindung.
Der Parteivorsitzende Prof. John Foster referierte. Es sprachen Kubaner, Russen, Inder und Chinesen, auch Sie hielten einen Beitrag. Das schien ein anderer Ansatz als in Mexico.
Naja, diese Zusammenkunft hatte ja auch ein ganz anderes Thema. Es ging darum, ob die von Marx gelieferte Theorie noch von Nutzen für die Gegenwart ist.
Und: Ist sie?
Selbstverständlich. Darin waren sich alle Teilnehmer einig wie auch in der Überzeugung, daß mehr zu ihrer Verbreitung getan werden müsse. Es bedarf grundsätzlich der politischen Schulung nicht nur der Parteimitglieder. Erstaunlich, was sich da in linken Parteien – von der deutschen einmal abgesehen – in vielen Ländern bereits tut. Die Parteiführungen haben begriffen, wie wichtig die Qualifikation für die aktive Politik ist. Ohne revolutionäre Theorie keine revolutionäre Praxis. Dieser Satz von Engels war Konsens.
Wie groß war der Teilnehmerkreis?
Nicht sehr groß, kein halbes Hundert Wissenschaftler und Politiker, durchaus ein exklusiver Klub. Dafür war der Meinungsaustausch sehr lebhaft und anregend. Die Briten machten deutlich, daß es ihnen um einen internationalen Dialog geht, um eine Verständigung über die Aufgaben linker Parteien in Europa und in der Welt. Dabei ging es ihnen weniger um Tagespolitik, sondern um strategische Orientierungen. Interessant fand nicht nur ich den Beitrag von Prof. Cheng Enfu, dem Präsidenten der Akademie für Marxismus in Peking, wenn man so will: der Chef der dortigen Parteihochschule. Er plädierte beispielsweise für den gleichberechtigten Zusammenschluß der Linkskräfte inklusive der Gewerkschaften weltweit und regte in diesem Kontext die Bildung eines neuen Weltgewerkschaftsbundes an. Mit Blick auf die Geschichte meinte er, daß wir vermeiden sollten, Fehler zu wiederholen.
Zielte das auf uns?
Nicht nur. Cheng Enfu übte durchaus Selbstkritik. In China wären nur noch 30 Prozent der Betriebe in Staatsbesitz, in Belorußland 70. Es entwickle sich in China ein Markt ohne Moral. Er benutzte den Begriff »moralische Krise«, für die er drei Gründe sah: Die Tradition der Korruption in China sei seit dem 18. Jahrhundert nahezu ungebrochen, die Rolle der örtlichen Machthaber, die sich an die »öffentlichen Regeln« kaum hielten, sei zu gewaltig, und drittens schließlich würde die Landwirtschaft immer weiter hinter der industriellen Entwicklung zurückbleiben, wobei die meisten Chinesen auf dem Lande lebten. Die damit einhergehende soziale Spaltung der Gesellschaft sei in hohem Maße unmoralisch.
Und was hat das mit Marx zu tun?
Für ihn stand im Zentrum aller gesellschaftlichen Bemühungen der Mensch. Zurück zu Marx, lautete darum der Appell von Cheng Enfu, und er verwies auf diesbezügliches Unwissen bei ihrem akademischen Nachwuchs. Ihm müsse – was offenkundig bisher nicht oder nur in unzureichendem Maße geschieht – der historische Materialismus vermittelt werden. Für die Gestaltung einer besseren, einer gerechten Gesellschaft sei er unverzichtbar. Die Sowjetunion und ihr Gesellschaftsmodell seien letztlich an ihrer Abkehr vom Marxismus gescheitert.
Allein daran?
Das sei das Grundproblem gewesen, sagte Cheng Enfu. Begonnen habe es mit dem XX. Parteitag 1956, der in der Kritik an Stalin überzogen habe, und daß man sich in der Folgezeit immer weniger an Marx orientierte und statt dessen imperiale, pragmatische Großmachtpolitik betrieben habe. Gorbatschows Politik hätte den Prozeß der Auflösung ungeheuer beschleunigt, wenn nicht sogar gewollt.
Interessant fand ich die Antwort auf meine Frage nach dem Platz von Mao in der heutigen chinesischen Gesellschaft. Seine Ideen wären lebendig, aber neben Marx, Engels und Lenin sieht man keine weiteren Klassiker mehr. Es lag eine Statistik mit wissenschaftlichen Arbeiten über Marx, Engels, Lenin und Stalin vor. Hinter Stalin stand seit Jahren eine Null, 1990 wurde die letzte Publikation veröffentlicht.