"Reaktiver Nationalismus"
In der gegenwärtigen Debatte um Sarrazin scheint auf, dass sich die "politische Achse" schnell nach rechts verschieben kann, weil es bei den tief eingewurzelten Grundeinstellungen, die sich in der BRD NACH dem II. Weltkrieg ausgebildet haben, "Andockstellen" für nationalistische und rassistische Propaganda gibt. In der heutigen Ausgabe der jungen welt steht ein Interview, in dem ein Schlaglicht auf die Lage in Italien geworfen wird, wo die Rechtsentwicklung schon weiter fortgeschritten ist: http://www.jungewelt.de/2010/09-04/022.php . Ganz so weit ist es in Deutschland noch nicht. Aber unverkennbar gibt es Kräfte, die dahin wollen. Es ist sicher kein Zufall, dass Sarrazin von den grössten Medienkonzernen mit Macht in die "öffentliche Meinung" gespeist wird.
Wie das sogar bei den Lohnanhängigen, die auf nichts mehr angewiesen sind als Solidarität untereinander, wenn sie nicht vollends untergebuttert werden wollen, funktioniert, hat Thomas Lühr untersucht. Der in den Marxistischen Blättern http://www.neue-impulse-verlag.de/mbl/artikel/108/284/reaktiver-nationalismus.html erschienene Text steht hier:
geschrieben von Thomas Lühr
Es ist kein Geheimnis, dass der Nationalismus als ideologische Integrationsform den Herrschenden immer dazu gedient hat, das klassenmäßige Konfliktpotenzial des Lohnarbeitsverhältnisses zu entschärfen, um so die Gesellschaft nach dem kapitalistischen Rentabilitätsprinzip zu formieren. Hierbei ist allerdings die außenpolitische von der innenpolitischen Formierung zu trennen.
Während erstere auch über eine „internationalistische Ideologie“ vorgenommen werden kann, „je nach der Phase, in der sich das Kapital befindet und den Methoden, mit denen es seine Expansionspolitik betreibt“1, ist die innenpolitische Formierung weiterhin auf den Nationalismus und seine Funktion der Verschleierung des Klassengegensatzes angewiesen.
Wenn Jürgen Elsässer konstatiert, dass „der Nationalismus […] für das Kapital dysfunktional geworden“ sei2, so enthält diese These – in Hinblick auf die gegenwärtige außenpolitische Formierung durch den „internationalistischen“ „Krieg gegen den Terror“ im Namen der „westlich-christlichen Wertegemeinschaft“ – durchaus einen wahren Kern. Elsässer verkennt jedoch die Bedeutung der Rede von den „nationalen Interessen“ im Inneren, wo „die Identifizierung mit den herrschenden Kapitalkreisen und ihren politischen Repräsentanten eine in jeder Phase notwendige Funktion des Nationalismus“ ist3. Im Folgenden soll auf eine zeitgemäße Form des Nationalismus eingegangen werden, die gegenwärtig bei der innenpolitischen Formierung der BRD von Bedeutung ist.
Die Problemkonstellation
Im Rahmen seiner Untersuchungen zu den gesellschaftlichen Folgen der aktuellen Prekarisierungsprozesse4 hat das Forscherteam um Klaus Dörre auf das Problem des „reaktiven Nationalismus“ aufmerksam gemacht. Diese Form des Nationalismus hat derzeit einen starken Einfluss auf das Bewusstsein der Lohnabhängigen. Sein wesentlicher Inhalt ist – kurz zusammengefasst – ein gestiegenes Bedürfnis nach nationaler Identität in Zusammenhang mit einem Sozialchauvinismus, der sich in Rassismus bzw. Fremdenfeindlichkeit äußert.
Diese Erscheinungen sind vielfach empirisch belegt und gelten für alle Angehörigen der Lohnabhängigenklasse, unabhängig von Erwerbslosigkeit, prekärer oder gesicherter Erwerbstätigkeit und Branche5 – übrigens auch unabhängig von gewerkschaftlicher Organisierung6. Dieser Nationalismus gilt als reaktiv, weil er subjektiv eine Reaktion auf die Auswirkungen der verschärften Ausbeutung, vor allem den Abbau des Sozialsystems darstellt. Das durch die Sozialpartnerschaftsideologie lange Zeit genährte „Sozialstaatsbewusstsein“ wandelt sich zu einer „regressiv-modernen Ausschlussideologie“7. Diese bedient sich der vermeintlichen „Logik“, wenn es offenbar weniger zu verteilen gibt, müsse der Zugang zu den Leistungen eingeschränkt werden. In Folge sollen bestimmte gesellschaftliche Gruppen (irgendwie „Fremde“ und sogenannte „Leistungsverweigerer“ bzw. die berüchtigten „Sozialschmarotzer“) davon ausgeschlossen werden. Im Kontext der „internationalen Standortkonkurrenz“ tendiert der reaktive Nationalismus folglich dazu, Verteilungskämpfe in eine „Auseinandersetzung zwischen Kulturen und Nationen“ umzudeuten:
„In einer historischen Situation, in der die alte Verklammerung von Nationalstaat und sozialreformerischer Politik zerbrochen ist, in der die soziale Integrationskraft der Erwerbsarbeit nachlässt und die Ideologie des Globalismus zur Triebkraft sozialer Ungleichheit wird, bietet sich die Politik mit den Grenzen als imaginärer Ausweg an“8.
Die reale Basis dieser Ausschlussideologie bzw. der „Politik mit den Grenzen“ ist also, dass es auf Grund der Verschärfung der Ausbeutung, durch Sozialabbau und Prekarisierung der Lohnarbeit zu einer Zunahme des Konkurrenzdrucks und zu neuen Spaltungslinien innerhalb der Arbeiterklasse gekommen ist9. Subjektiv äußert sich der gestiegene Ausbeutungs- und Konkurrenzdruck als eine Verallgemeinerung von Unsicherheit bzw. vor allem: Beschäftigungsunsicherheit oder – wie es der französische Soziologie Robert Castel10 nennt – als eine „Wiederkunft der massenhaften Verwundbarkeit“. Sie entspringt der lohnarbeitstypischen „Klassensubjektivität“, die in der Existenzform jeder doppelt freien Lohnarbeit gegeben ist11.
Das Interessante daran ist, dass diese Zunahme der allgemeinen Unsicherheit und Verwundbarkeit, die sich dem Einzelnen einfach als Angst darstellt, zu einer Änderung der subjektiven Grundverarbeitungsmuster der Lohnabhängigen geführt hat:
War es in der Phase des relativen Wohlstands mit seinem ausgeprägten Sozialstaat noch so, dass innerhalb der Arbeiterklasse Individualisierungs- und Vereinzelungstendenzen befördert wurden12, so haben wir es heute, nachdem mit dem Sozialabbau die reale Basis für diese Individualisierungstendenzen mehr und mehr wegbricht, wieder mit einem Emporkommen einer schon verloren geglaubten homogenen Klassenmentalität zu tun13.
Das Problem ist, dass sich diese kollektive Mentalität – die eine Klassenmentalität ist, weil sie auf einer spezifischen Klassensubjektivität beruht – eben nicht durch die Entwicklung von Klassenbewusstsein äußert, sondern in der Form des „reaktiven Nationalismus“.
Ein Ausdruck dieses geänderten Grundverarbeitungsmusters der lohnarbeitstypischen Klassensubjektivität ist die Form, in der die Individuen sich in der durch die Prekarisierung nun restrukturierten Arbeitsteilung positionieren. Unter den Bedingungen des entfesselten Kapitalismus müssen sie ihre Anstrengung zur optimalen Vermarktung der eigenen Arbeitskraft verstärken. Das Forscherteam um Klaus Dörre kommt dabei zu dem Ergebnis, dass diese Kämpfe heute nur noch „scheinbar ‚individualistisch‘“ geführt werden. Tatsächlich finden die Konkurrenzkämpfe auf dem Arbeitsmarkt mittels – realer wie imaginärer – Kollektive (Gruppenbildungen) statt14.
Als Mittel für diese Gruppenbildung dienen nationalistische und fremdenfeindliche Klassifikationen. Beispielsweise wird der Gegensatz zwischen Prekären und „Normalbeschäftigten“ (in einem Betrieb) oder der zwischen Beschäftigten und Erwerbslosen zu einer Auseinandersetzung zwischen „Deutschen“ und „Nicht-Deutschen“.
Es handelt sich dabei um Versuche, Anschluss an identitätsstiftende Gemeinschaften, an sogenannte Ingroups zu finden, „um so die eigene Position in der Konkurrenz um materielle Ressourcen und soziale Anerkennung zu stärken“, wie es in einer Studie heißt15.
Der „Klassenkampf von oben“, d. h. der gestiegene Druck auf die Lohnarbeit führt also dazu, dass die Lohnabhängigen, im Bestreben ihre Lebensbedingungen zu verbessern, nicht etwa ihrerseits die innere Einheit und die Solidarität gegen das Kapital forcieren, sondern, im Gegenteil, ihre eigene sozioökonomische Spaltung mittels einer ethnischen noch verstärken. Somit gelingt die innenpolitische Formierung zur Aufrechterhaltung der optimalen Verwertungsbedingungen für das Kapital auch in Zeiten der verschärften monopolkapitalistischen Konkurrenz.
Subjektive Brücke zum Neofaschismus
Unter den Bedingungen der verschärften Arbeitsmarktkonkurrenz kommt es also dazu, dass die kapitalistisch bedingte Konkurrenz innerhalb der Arbeiterklasse, die – wie Marx und Engels einst im Manifest schrieben – „die Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“ immer wieder sprengt16, irrational „durch das ethnische Profil und die kulturelle Andersartigkeit des Arbeitskollegen konstituiert“ erscheint17.
Diese subjektive Verarbeitung der kapitalistischen Konkurrenzbedingungen wird durch die Dominanz der imperialistischen Standortund Sozialpartnerschaftsideologie genährt18. Denn der Boden, auf dem der reaktive Nationalismus gedeiht, besteht darin, dass der Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit als ein Verteilungskonflikt innerhalb der Arbeiterklasse wahrgenommen wird, der eben nur durch eine Ausgrenzungsstrategie lösbar zu sein scheint.
Insofern ist der reaktive Nationalismus eine spezifische Verdichtung eines „Alltagsverstandes“, in welchem der „diffuse Charakter allgemeinen Denkens einer bestimmten Epoche in einem bestimmten Milieu des Volkes“ überwiegt19. Er korrespondiert mit der herrschenden Berichterstattung in den Medien und der Propaganda der Unternehmerverbände. Aber er bildet eben auch ein Verbindungsglied, sozusagen eine „subjektive Brücke“20, zwischen den realen Alltagserfahrungen in der Arbeitswelt und der Propaganda des Neofaschismus.
Neofaschistische Organisationen wie die NPD können mit ihrer sozialen und antikapitalistischen Demagogie geschickt an der Widersprüchlichkeit des Alltagsverstandes anknüpfen: Einerseits werden die kapitalistischen Konkurrenz- und Verwertungsanforderungen „zurückgewiesen und im rechtsextremen Modell von volksgemeinschaftlichem Sozialstaat aufgelöst; andererseits werden ihre Formen der Ausgrenzung, Brutalisierung,Mobilisierung des Subjekts aufgegriffen und gegen die gesellschaftlich Marginalisierten gewendet“21. Somit gelingt sowohl die scheinbare Opposition gegen den Kapitalismus als auch die Aufrechterhaltung seiner Herrschaftslogik.
Es ist das verletzte Gerechtigkeitsempfinden eines überkommenen (gewerkschaftlichsozialdemokratischen) Sozialstaatsbewusstseins, das sich mit einer kollektiven Mentalität vermischt, welche sich – weil eine klassenkämpferische Interpretation durch die Dominanz der Sozialpartnerschaftsideologie blockiert ist – nur als Bedürfnis nach ausgrenzender nationaler Integration realisieren kann, was den reaktiven Nationalismus so gefährlich macht. Er ist die falsche Antwort auf das wirkliche Problem, dass die verschärfte Ausbeutung und der zunehmende Konkurrenzdruck innerhalb der Arbeiterklasse eine überindividuelle Gegenwehr herausfordern.
Zwar ist diese Form eines neuen Nationalismus nicht identisch mit einer faschistischen Ideologie, aber er bietet ein Potenzial, an dem neofaschistische Formationen anknüpfen können. Reinhard Opitz hat dieses Potenzial einst treffend charakterisiert:
„Ein Potenzial nämlich, dessen Merkmal darin besteht, dass sich ihm zwar die Verletzung seiner objektiven Interessen in der Verschlechterung seiner Lebenslage und der Enttäuschung seiner Lebenshoffungen praktisch mitteilt und [dass] es darüber zunehmend in Erbitterung über die gegebene Wirklichkeit und die sie verantwortenden Parteien gerät, [dass] es andererseits aber doch ganz in der ihm permanent suggerierten monopolkapitalistischen Ideologie befangen bleibt und daher dennoch nicht zu einer Erkenntnis seiner objektiven politischen Interessen noch gar der Ursachen ihrer Verletzung zu gelangen vermag.“ Stattdessen ist es nur dazu imstande, „die Ursachen seiner ihm unerträglich gewordenen Lage [...] entsprechend den Schablonen der imperialistischen Ideologie [...] auf die innen- und außenpolitischen Gegner nicht seiner eigenen, sondern gerade der monopolkapitalistischen Interessen zurückzuführen“.22
Die Linke und die „nationalen Interessen“
Der „reaktive Nationalismus“ ist also eine ideologische Integrationsform, die nicht nur die Gesellschaft nach dem Rentabilitätsprinzip des Kapitals formiert, indem sie den Konkurrenzdruck innerhalb der Arbeiterklasse nationalistisch kompensiert und so ihre Spaltung vertieft. Er stellt außerdem eine gefährliche Übergangsform zum Neofaschismus dar, indem er ihm ein Potenzial bereitet, an dem er relativ unkompliziert anknüpfen kann.
Für die Linke stellt sich die Frage, wie sie diesem Problem entgegenwirken kann. Dabei sind m.E. zwei Aufgaben selbstverständlich und sollen daher an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden:
1. die Notwendigkeit, eine außerparlamentarische und betriebliche Orientierung in den Kampf gegen Sozial- und Demokratieabbau hineinzutragen: denn eine ausschließlich parlamentarische Strategie bietet den Subjekten keine ausreichende, gleichzeitig objektiv-adäquate und subjektiv-funktionale Lösungsstrategie.
2. die konsequente Bekämpfung der Standortund Sozialpartnerschaftsideologie in den Gewerkschaften: denn ohne ihre Überwindung ist kein wirkliches Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge möglich. Ist dieses aber gegeben, wäre dem reaktiven Nationalismus innerhalb der Arbeiterklasse der Nährboden entzogen.
Was hier hingegen zu diskutieren wäre, ist die Frage, wie es möglich ist, eine nationale Politik zu entwickeln, die die kollektive Mentalität der Unsicherheit nicht nationalistisch kompensiert, sondern in eine fortschrittlichdemokratische Richtung entwickelt.
Das Bedürfnis nach einer nationalen Identität ist real unter den Lohnabhängigen vorhanden23. Es verbindet sich mit einer abstrakten Vorstellung von „nationalen Interessen“. Die Linke mag darüber die Nase rümpfen. Oder sie kann es sich zur Aufgabe machen, den Kampf um das hegemoniale Projekt „Nation“ aufzunehmen, indem sie den Begriff des Nationalen, von einem Klassenstandpunkt aus, mit Inhalt füllt. Diese Aufgabe hätte durchaus eine Berechtigung und Perspektive, denn:
„Geschichtlich hat der Imperialismus die nationalen Interessen seinen Klasseninteressen untergeordnet und damit die nationalen Interessen preisgegeben. Zugleich steht die Arbeiterklasse vor der Aufgabe, nunmehr die nationalen Interessen mit aller Entschiedenheit zu vertreten“24.
„Wir Kommunisten“, so folgerte Georgi Dimitroff in kritischer Auswertung der Tatsache, dass die KPD vor 1933 die „nationalen Befindlichkeiten“ der deutschen Bevölkerung nicht ernst genug genommen hatte, „sind unversöhnliche grundsätzliche Gegner des bürgerlichen Nationalismus in allen seinen Spielarten. Aber wir sind nicht Anhänger des nationalen Nihilismus und dürfen niemals als solche auftreten“25. Dieses vormalig richtige Prinzip fortschrittlicher Politik kann auch heute noch fruchtbar gemacht werden, wenn es darum geht, ein Erstarken des Neofaschismus zu verhindern.
Die reale Basis der Vorstellung von „nationalen Interessen“ ist das Empfinden, dass aktuell diese Interessen nicht bedient werden. So kommt die Untersuchung, die im Herbst 2006, noch vor ihrer vollständigen Veröffentlichung, als „Unterschichten-Studie“ bekannt geworden ist26, zu dem Ergebnis, dass 49 % der Deutschen befürchten, ihren Lebensstandard nicht halten zu können, während 59 % angeben, sich schon jetzt finanziell einschränken zu müssen. Die übergreifende Mentalität der sozialen Unsicherheit kommt darin zum Ausdruck, dass 63 % der Bevölkerung Angst vor den gesellschaftlichen Veränderungen haben. An dieser durchaus realen Bedrohungsempfindung knüpft der reaktive Nationalismus an und schlägt somit die Brücke zur sozialen und nationalen Demagogie der NPD, mitsamt ihrer rassistischen Hetze27.
Der Linken muss es gelingen, nicht nur die wirklichen Ursachen der sozialen Unsicherheit aufzuzeigen. Sie muss auch ihrerseits Handlungsperspektiven anbieten, die es den Menschen ermöglichen, Strategien zu verfolgen, die sie selbst in die Lage versetzen, Kontrolle über ihre eigenen Lebensbedingungen zu erlangen28.
Die Linke muss aber auch den ideologischen Kampf gegen den bürgerlichen Nationalismus führen. Der reaktive Nationalismus bietet dafür durchaus auch Anknüpfungspunkte. So ist seine Identitätskonstruktion beispielsweise weit entfernt von der vormodernen Variante faschistischer Blut- und Boden- Ideologie:
„Der reaktive Nationalismus von Arbeitern, Angestellten und alten wie neuen Selbstständigen definiert sich nicht, jedenfalls nicht primär, über völkische Ideen und Symbole. Er beruft sich höchst modern auf ein Verständnis des Nationalen, das soziale Ansprüche, also Bürgerrechte legitimiert“29.
Die nationale Identität und das Bedürfnis, „stolz zu sein“ auf Deutschland, wird z. B. mit der wirtschaftlichen Stärke und dem internationalen Prestige der BRD assoziiert. Man identifiziert sich vor allem mit dem Wiederaufbau nach dem Krieg30.
Meiner Meinung nach gilt es hier anzuknüpfen: Ist der Wiederaufbau etwa die Leistung des deutschen Kapitals oder der Arbeiterklasse? Und welchen Anteil daran haben die Arbeitsmigranten aus den sogenannten Anwerbeländern? Auf wessen Arbeit beruht heute der Erfolg des „Exportweltmeisters‘“? Und wem nützt er? Wer schränkt die Ansprüche auf soziale Leistungen für wen ein?
Es wird deutlich, dass diese „nationalen Fragen“ soziale Fragen sind, und dass „nationale Interessen“ Klassencharakter haben. Die Rechte weiß dies schon lange und kann damit, dass sie diese Wahrheiten einfach umdreht, teilweise Erfolge verbuchen. Sie spricht die richtigen Themen an31, eben die „nationalen Interessen“. Die Linke hätte dabei freilich mehr zu bieten.
Offenbar sind die Herrschenden mit der Zuspitzung der monopolkapitalistischen Konkurrenz immer weniger in der Lage, die wirklichen „nationalen Interessen“ zu bedienen. Ihre Unfähigkeit drückt sich in der übergreifenden Mentalität der Unsicherheit aus und fordert somit die Arbeiterklasse heraus. Denn schließlich ruht nur in ihr „die Kraft und Entwicklungsfähigkeit der Nation“32.
Nur wenn es gelingt, den Inhalt des „Nationalen“ demokratisch und antimonopolistisch – d. h. im Sinne der Interessen der Mehrheit und der werktätigen Bevölkerung – zu definieren, dürfte es auch möglich werden, die konkreten Klasseninteressen der Arbeiterinnen und Arbeiter aus den vermeintlich „nationalen Interessen“ herauszulösen und somit die Entwicklung von Klassenbewusstsein voranzutreiben.
1 Opitz, Reinhard (1969): Gedanken zum Thema „Formierung und Faschismus“. In: Ders. (1999): Liberalismus – Faschismus – Integration. Edition in drei Bänden, Bd. 2 Faschismus. Marburg, S. 119-140, hier: S. 130.
2 Elsässer, Jürgen (2007): Angriff der Heuschrecken. Zerstörung der Nationen und globaler Krieg. Bonn, S. 91.
3 Opitz, ebd.
4 Vgl. Brinkmann, Ulrich / Klaus Dörre / Silke Röbenack / Klaus Kraemer / Frederic Speidel (2006): Prekäre Arbeit. Ursachen, Ausmaß, soziale Folgen und subjektive Verarbeitungsformen unsicherer Beschäftigungsverhältnisse. Bonn.
5 Ebd., S. 74, 82f.
6 Vgl. Stöss, Richard / Michael Fichter / Joachim Kreis / Bodo Zeuner (2004): Projekt „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“. Abschlussbericht. Berlin. Online: http:// www.polwiss.fu-berlin.de/projekte/gewrex/gewrex _downl.htm.
7 Brinkmann et al., S. 76.
8 Ebd., S. 77.
9 Vgl. Projekt „Klassenanalyse@BRD“ (2006): Umbau der Klassengesellschaft. Beiträge zur Klassenanalyse. Band 2. Essen.
10 Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Konstanz, S. 357.
11 Vgl. Krauss, Hartmut (1996): Das umkämpfte Subjekt. Widerspruchsverarbeitung im „modernen“ Kapitalismus. Berlin, S. 45.
12 Ebd., S. 40, Wacker, Ali (1976): Arbeitslosigkeit. Soziale und psychische Voraussetzungen und Folgen. Frankfurt/ Main. S. 145f.
13 Selbst Pierre Bourdieu redete – ein wenig wider Willen – von der allgemeinen subjektiven Unsicherheit als einer „kollektiven Mentalität“ der Lohnabhängigen: Bourdieu, Pierre (1997): Prekarität ist überall. In: Ders.: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz, S. 96-102, hier: S. 97.
14 Vgl. Brinkmann et al., S. 76.
15 Ebd.
16 Marx, Karl u. Friedrich Engels (1848): Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW, Bd. 4, S. 459-493, hier: S. 471.
17 Seppmann,Werner (1995): Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt. Köln, S. 152.
18 Wie weit die „ideologische Entwaffnung“ der Gewerkschaften bereits fortgeschritten ist, wird z.B. daran deutlich, dass ihre Mitglieder nicht durch ein gewerkschaftliches Überzeugungssystem miteinander verbunden sind: vgl. Stöss et al., S. 299. Somit verwundert es auch nicht, wenn befragte Betriebsräte und Vertrauensleute der IG Metall auf Reizworte wie „Klassengesellschaft“ oder „Arbeiterklasse“ eher mit Verlegenheit reagieren. Bei einigen „lösten die Begriffe Irritationen und gelegentlich auch Abwehr aus“: Bergmann, Joachim / Erwin Bürckmann / Hartmut Dabrowski (2002): Krisen und Krisenerfahrungen. Einschätzungen und Deutungen von Betriebsräten und Vertrauensleuten. Hamburg, S. 36.
19 Gramsci, Antonio (1967): Philosophie der Praxis. Eine Auswahl. Frankfurt/Main, S. 135f, Fn 1.
20 Brinkmann et al., S. 67.
21 Kaindl, Christina (2007): Antikapitalismus von rechts. In: Das Argument, Nr. 269, S. 60-71, hier: S. 69f.
22 Opitz, Reinhard (1974): Über die Entstehung und Verhinderung von Faschismus. In: Das Argument, Nr. 87, S. 543- 603, hier: S. 591.
23 Vgl. Brinkmann et al., S. 71.
24 Kumpf, Richard (1984): Die nationale Frage bei Marx, Engels und Lenin. In: Marx-Engels-Stiftung (Hg.): Marxismus und nationale Politik. Wissenschaftliches Symposium der Marx-Engels-Stiftung.Wuppertal, S. 5-17, hier: S. 12.
25 Dimitroff, Georgi (1935): Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. In: Ders. (1972): Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 1, Frankfurt/Main, S. 104-179, hier: S. 166, Herv. i. Orig.
26 Neugebauer, Gero (2007): Politische Milieus in Deutschland. Bonn.
27 Vgl. Lühr, Thomas (2007): Die NPD als Saboteur im Klassenkampf. In: Marxistische Blätter, H. 6-07.
28 Dazu ist es auch nötig aufzuzeigen, gegen wen diese Strategien wirklich durchgesetzt werden müssen. Ausländerfeindlichkeit bspw. kann die eigene Lebenssituation langfristig nicht verbessern. Ihre subjektive Funktionalität ist beschränkt, eben weil sie objektiv nicht adäquat ist. Nur in der direkten, d.h. bewussten Auseinandersetzung mit dem Kapital ist es möglich, den Subjekten das Gefühl zu vermitteln, selbstständig im Sinne der Einflussnahme auf ihre unmittelbaren Lebensbedingungen tätig zu sein.
29 Brinkmann et al., S. 76.
30 Vgl. ebd.
31 „Rechte Parteien sind zu extrem, aber sie sprechen die richtigen Themen an.“ So lautet einer der zentralen Topoi, die Übergänge zum Rechtspopulismus darstellen: Ebd., S. 73f.
32 Engels, Friedrich (1845): Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen. In:MEW, Bd. 2, S. 225-506, hier: S. 455.