Sarrazin: die "Völkischen" postmodern
Die heutige BILD-Schlagzeile: "Was wir Deutsche wirklich von Sarrazin halten". Gleichzeitig wird gemeldet, dass das Buch dieses Herrn auf Platz 1 der Bestsellerlisten steht. Dieses Buch selbst wäre keinen Nebensatz wert. Seine Bedeutung liegt nicht im Inhalt, sondern in seiner Funktion. Es ist von den beiden grössten Medienkonzernen, Bertelsmann und Springer, zum Mittel einer Kampagne gemacht geworden, mit der politische Absichten verbunden sind. Diese Absichten haben nichts mit Integrationsproblemen zu tun. Es geht nicht einmal um die Menschengruppen, gegen die gehetzt wird. "Die" Muslime müssen nur herhalten, weil sie als geeignet betrachtet werden, bei den Bürgern diejenigen Assoziationen abzurufen, die für die politischen Absichten brauchbar sind. Der Zweck ist zunächst, rassistische Vorurteile zu einem "gewöhnlichen" Teil des Mainstream-Diskurses zu machen, Rassismus zu einer "legitimen Meinung unter anderen" zu machen. Genau dahin zielt BILD: Schämt euch nicht mehr eueres Rassismus, das ist etwas Normales.
Worum geht es ?
Warum vergilbt Sarrazins Stammtisch-Sinniererei nicht in den Lagern des Buchhandels,sondern wird mit aller Medienmacht zum Bestseller gepusht ?
Die Dominanz der bisherigen ideologischen Grundlage der herrschenden Politik ist einserseits gefährdet, andererseits ist deren Inhalt in gewissem Mass auch dysfunktional für die Interessensdurchsetzung der "tonangebenden Kreise" geworden - schlicht der Banken und Konzerne und ihrer politischen Handlanger im Staatsapparat und in den "Volks"parteien. Der Glaube an den "Sozialstaat", an "soziale Gerechtigkeit", "sozialen Ausgleich", an die Rechtsgleichheit aller Bürger ist erschüttert. Die politische Integrationskraft der alten Parteien erodiert. Alle Umfragen zeigen, dass immer mehr Menschen die gegenwärtige gesellschaftliche Ordnung in Frage stellen. Immer mehr Menschen gehen nicht einmal mehr zu Wahl. Zehn Prozent wählen die Linkspartei, eine Partei, die als "systemverändernd" auftritt und sozialistische Veränderungen propagiert. Entäuschung, Misstrauen, Verunsicherung, Zukunftspessimismus erfassen inzwischen mehr als die Hälfte der Bevölkerung.
Damit entsteht ein "politisches Vakuum", das entweder von links oder von rechts gefüllt wird. Die Kampagne mit Sarrazin als Marktschreier soll es von rechts ausfüllen helfen. Offenbar liebäugelt ein Teil der herrschenden Klasse mit der Formierung einer neuen Rechtspartei. Dafür muss das entsprechende "politische Klima" geschaffen werden. Und welche organisatorische Form sich auch durchsetzen mag - die "Verschiebung der politischen Achse nach rechts" ist im Interesse der gesamten herrschenden Klasse.
Dabei gibt es ein Problem: Die Herrschenden haben der Masse der Bevölkerung materiell nichts anzubieten. Im Gegenteil - für die weitere Bereicherung der Reichen steht die Verarmung der Masse an. In einer neulich in diesem Blog verlinkten Statistik http://kritische-massen.over-blog.de/article-eine-desillusionierende-graphik-56417844.html wird anschaulich, dass die Umverteilung nach oben auf Kosten nicht nur des untersten Drittels, sondern auf Kosten von 90 Prozent der Bevölkerung betrieben wird. 90 Prozent der Bevölkerung sind zwischen 2002 und 2007 relativ ärmer geworden, während die obersten 10 Prozent ihren Anteil noch einmal, auf mittlerweile über 60 Prozent, gesteigert haben. Die Hälfte der Bevölkerung besitzt nichts als persönliche Habseligkeiten. Die Löhne stagnieren und fallen in vielen Sektoren. Mehr als ein Drittel der Beschäftigungsverhältnisse ist prekär. Das gesamte Tarifsystem wird ausgehöhlt. Viele Vollzeit-Jobs bringen nicht einmal mehr das Existenzminimum ein. Die 1-Euro-Jobs von Hartz IV-Beziehern und die jetzt ins Spiel gebrachte "Bürgerarbeit" ist praktisch die Einführung von Zwangsarbeit.
Der Druck auf das Lohnniveau verunsichert und gefährdet auch diejenigen, die noch "gute Arbeit" haben. Die Privatisierung staatlicher Dienstleistungen bedroht auch diejenigen Beschäftigten in staatlichen und öffentlichen Institutionen, deren Arbeitsplätze einmal als lebenslang gesichert galten.
Immer mehr Menschen spüren, dass es seit bald dreissig Jahren nicht mehr aufwärts geht, dass wachsende Teile der Bevölkerung zu Verlierern der neuesten kapitalistischen Modernisierung werden, dass technischer Fortschritt und höhere Arbeitsproduktivität unter kapitalistischen Verhältnissen für die Lohnabhängigen und kleinen Selbständigen eher eine Bedrohung als ein Grund für Zukunftshoffnungen ist.
Nationalismus und Rassismus: Ideologie als Wohlstandsersatz
Was haben die Springer und Bertelsmann also anzubieten, um das "politische Vakuum" von rechts zu füllen ? - Eben Sarrazins, anstatt Wohlstandverheissungen Rassismus und Nationalismus; das Ablenken von den wirklichen Problemen der Masse der Menschen auf erfundene und künstlich aufgebauschte Probleme, die Schaffung von Scheinfeinden, von Sündenböcken. Wenn es nicht gelingt, solche Sündenböcke zu schaffen, droht sich der Volkszorn gegen die Reichen selbst zu richten.
"Jetzt redet niemand mehr von kriminellen Spekulationsgeschäften und milliardenschweren Steuergeschenken an die Verursacher der Krise. Wir reden jetzt über muslimische Kinder. Wir reden nicht mehr darüber, dass der Sozialstaat konsequent abgeschafft wird - sondern darüber, dass Arbeitslose dessen Reste angeblich ausnutzen. Sarrazin und das "Sparpaket" sind zwei Flanken des selben Grossangriffs - mit dem Ziel und dem Potential, die politischen Achsen weiter nach rechts zu verschieben", stand vor ein paar Tagen in junge welt.
So ist es. Das Muster ist haargenau das gleiche, das immer und überall angewendet wird. Sarkozy und Berlusconi wenden es zur Zeit vorzugsweise gegen die Roma an, Wilders und Sarrazin gegen Muslime.
Die willkürliche und künstliche Herstellung eines Scheinfeindes hat auch heute die Funktion, die sie in der Geschichte immer hatte. Diejenigen, die in die Irre geführt werden sollen, sollen gleichzeitig auch gespalten und gegeneinander gehetzt werden - aktuell die noch in normalen Arbeitsverhältnissen Stehenden gegen die prekär Beschäftigten, die für sie eine Konkurrenz und unfreiwillige Lohndrücker sind; Inländer gegen Ausländer; "deutsche" Arme gegen "ausländische" Arme.
In ihrer objektiven Funktion sind die Wilders und Sarrazin die Goebbels und Hitler von heute. Diejenigen Lohnabhängigen und kleinen Selbständigen, die mit solchen Figuren sympathisieren, sollten sich rechtzeitig überlegen, ob sie sich trotz der heute vorliegenden geschichtlichen Erfahrungen noch einmal auf den verderblichen Weg begeben wollen, auf den diese Rattenfänger sie führen wollen. Auf diesem Weg verlieren alle - mit Ausnahme von wenigen Superreichen, die auf diesem Weg allerdings gewinnen. Nationalismus und die rassistische wahnhafte Selbstüberhebung über angeblich primitivere Leute sind ein trügerischer Stolz. Diesen Wahn kann man nicht essen. Der brotlose Wahn soll zum Ersatz für den alten Stolz gemacht werden, in einem wohlhabenden und sozial einigermassen gerechten Land zu leben. Sich deutscher fühlen zu sollen und gleichzeitig den Gürtel enger schnallen zu müssen, fällt nicht zufällig zeitlich zusammen.
Es nützt auch nichts, sich selbst einzulullen. "So schlimm wie der Hitler sind Leute wie Wilders und Sarrazin doch längst nicht." "Manche Ausländer machen doch wirklich Probleme." "Die sprechen doch bloss Missstände an, die es wirklich gibt." ...
Nein, es handelt sich nicht um eine Diskussion, wie Immigranten sich den hiesigen Verhältnissen anpassen können oder sollen. Natürlich entstehen Probleme, wenn Millionen Menschen zuwandern. Diese lassen sich nicht mit staatlichem Zwang lösen. Es braucht mehrere Generationen, bis diese Menschen wirklich "angekommen" sind. Sie zu stigmatisieren, bewirkt das Gegenteil von Integration - Absonderung, Festhalten am aus der alten Heimat Hergebrachten. Die Italiener und Spanier, Griechen und Jugoslawen und die türkischen Zuwanderer der 1960er Jahre, die geblieben sind, sind zum grössten Teil - inzwischen ist die dritte Generation herangewachsen - integriert. Das beweist, dass die Menschen das schon selber tun, selbst gegen viele Widrigkeiten, wenn man ihnen wirklich die Möglichkeit gibt.
Aber darum geht es in der Sarrazin-Kampagne gar nicht. Es geht um Verhetzung. Hasse und verachte den Muslim, auf dass du nicht darauf kommst, Ackermann und Merkel zu hassen. Hasse und verachte die Muslime, damit du nicht darauf kommst, mit ihnen zusammen einen gesetzlichen Mindetslohn von zehn Euro durchzusetzen. Das ist der schlichte Sinn des "Phänomens" Sarrazin.